Gentlemen, wir leben am Abgrund
Korbnähe gegen die kleinen und schmalen Frankfurter isolieren. Ohne die Hilfe ihrer giftigen Außenspieler sind Powell und Muurinen zu klein für Berlin. Die Mannschaft wird unruhig, aber Coach Katzurin erinnert noch einmal an die schnell wechselnden Verteidigungsvarianten. Im Training hat das Team an plötzlichen Systemwechseln in einer Verteidigungssequenz gearbeitet, von Zone auf Mann-gegen-Mann und umgekehrt. Manchmal etwas dazwischen. Die Hoffnung ist, dass die Frankfurter von dieser Taktik noch verwirrter sind als wir. »Let’s go, guys!«, sagt der Coach, und die Mannschaft kommt zusammen. Huddle in der Kabine, Huddle im Gang, Huddle im Mittelkreis.
»Diesmal geht es mir nahe«, sagt Baldi. Er zeigt auf seinen Magen und macht eine Handbewegung, die wie Wringen oder Würgen aussieht. Er setzt sich auf die Presseplätze mit Sicht auf die Bank, mein Platz ist schräg dahinter. Die Lichter gehen aus, DaShaun Wood macht seine Klimmzüge am Ring und die Skybembels direkt hinter uns werden noch lauter, als sie sowieso schon sind. Heute Morgen beim Training hat Baldi wie immer bei Auswärtsspielen seine Liegestütz gemacht, ein paar Sit-Ups und Rückenübungen. Jetzt sitzt er wieder direkt am Parkett, vornübergebeugt, das Gesicht in beide Hände gestützt. Wir sehen der Vorstellung der Spieler zu.
Marco Baldi ist ein schwer zu knackender Mann, er verliert selten die Fassung. Baldi argumentiert in Gremien, er verhandelt mit Agenten, er führt die Geschäfte. Er kalkuliert die Wirkung seiner Worte. In dieser Saison hat er Spiele verloren, den Trainer beurlaubt und Spieler entlassen. Er hat seine eigenen Überzeugungen überarbeitet. Er ist der Chef. Aber als die Spieler vor der Bank zum letzten Huddle vor dem entscheidenden Spiel zusammenkommen, sieht Baldi zur Hallendecke, als würde er beten. Die Spieler umarmen sich, einige distanziert, andere herzlich, zuletzt wie immer Femerling und Schultze. Plötzlich erinnere ich mich an die Fernsehbilder der letzten Meisterschaft, 2008, Baldi inmitten seiner Spieler, Femerling schüttelt den Meisterschild, und Baldischeint mit den Tränen zu kämpfen. Er umarmt jemanden, den man auf den Fernsehbildern nicht erkennen kann. Jetzt sitzt Baldi direkt am Spielfeldrand, die Fotografen um ihn herum scheint er gar nicht wahrzunehmen. Der Manager hat seine Arbeit erledigt, jetzt wirkt er plötzlich machtlos. Wie wir alle. Ich schlage mein Notizbuch auf und will notieren, aber mir fehlen die Worte. Für ein Eingreifen ist es zu spät. Baldi sitzt unbeweglich. Angespannt. Konzentriert. Das Spiel beginnt.
Alba startet so fokussiert, wie der Coach es sich wünscht. Katzurins Plan geht auf. Der Ball läuft schnell, die Frankfurter Verteidigung muss laufen und kommt zu spät. Erst punktet Miro unter dem Korb, er ist schwerer und dreht sich schneller als seine Gegenspieler. Dann trifft McElroy zwei schnelle Dreier. In der Verteidigung ist er ständig vor Wood und neben Wood und um Wood herum. Nach einem weiteren Korb starrt er dem Einwerfer direkt ins Gesicht, leicht vornübergebeugt und bereit zur Verteidigung. Er hält den Blick, klatscht zwei-, dreimal in die Hände, die Cincinnati-Bearcat-Geste aus seinen Collegejahren, wenn sie den Gegner zerfetzen wollten: Zähne blecken, starren, klatschen. Und dann erstickende Verteidigung. Alba führt 13:26. Coach Katzurin wechselt heute wenig, er scheint zufrieden mit der Leistung seiner Starter.
Seine Zufriedenheit verfliegt im zweiten Viertel. Rochestie verschenkt gegen Robertson einen Rebound und wird gleich im nächsten Angriff böse abgeräumt. Zwei Ballverluste später ist Frankfurt zurück im Spiel. Coach Katzurin, der sonst selten laut wird, flucht hebräisch, damit ihn niemand versteht, und bringt Heiko Schaffartzik. Berlin startet Runs, aber Frankfurt geht nicht weg. Powell und McKinney treffen Dreier, Berlin verliert ein paarmal den Ball oder nimmt schlechte Würfe. Frankfurt holt auf. Yassin ist sichtlich müde, zumindest ist er nicht so konzentriert wie sonst und schließt einen Angriff aus schlechter Position mit einem wilden Hakenwurf ab. »Wir wollen ins Finale!«, schreit der Hallensprecher in jeder Auszeit, und Frankfurt ist dran. »Wir wollen ins Finale!«
»Wir müssen besser kommunizieren«, sagt der Coach in der Halbzeit. »Wir müssen als Team verteidigen und wir müssen als Team angreifen.Bewegt den Ball, um Himmels willen! Und attackiert den Korb. Attackiert den Korb! Verdammt noch mal! Wenn wir hier gewinnen wollen,
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