Gentlemen, wir leben am Abgrund
verschwunden ist). Es geht wieder einmal um alles. Für die Frankfurter spricht, dass noch nie eine Mannschaft eine Playoff-Serie mit drei Auswärtssiegen gewonnen hat. Für uns spricht, dass wir in dieser Saison alle Spiele in Frankfurt gewonnen haben. Die Halle fühlt sich heute besser an als noch letzte Woche. Ich umrunde das Spielfeld, ich sehe den Spielern beim Stretching zu. Die langen Fransen unten an den Baumwollnetzen erinnern mich an die Leverkusener Dopatka-Halle in den frühen Neunzigern, an italienische Hallen, an Griechenland. An die große europäische Basketballwelt. Bryce und Sven werfen ihre Serien, und wenn der Ball glatt durch den Ring geht, fliegen die Fransen nach oben (es sieht aus wie Jubel). Für ein paar Minutensitze ich auf der Auswechselbank und sehe die Spieler, die Zuschauer, die Würfe. Vielleicht ist heute auch mein letztes Spiel, meine letzte Auswärtsfahrt. Vielleicht endet meine Profisaison heute, vielleicht ereilt mich das Ende in Frankfurt am Main.
Die Playoffbärte wachsen, die Mannschaft ist in einem guten Zustand. Nur Julius hat gestern wieder einmal nur am Rand gesessen und zugesehen. Erkältung. Coach Katzurin hat ihn aus dem Training genommen und ihm Schonung verordnet, als wolle er von vornherein jegliche Ausreden unterbinden. Sowieso scheint sich niemand Sorgen um ein Spiel ohne Julius zu machen, denn auch das erste Spiel vor knapp zwei Wochen haben wir hier ohne ihn gewonnen. Lucca Staiger hat seine Lebensmittelvergiftung überwunden, aber heute hängt er sein Trikot in der Kabine auf und steht einige unentschiedene Sekunden davor, als wisse er nicht, ob er es überhaupt anziehen soll. Yassin hat beim letzten Spiel müde gewirkt, die kleinen Frankfurter scheinen Spiel um Spiel Schicht um Schicht seiner Kraft abzufeilen. Er macht seine Yogaübungen länger als sonst. Der Daumen von Bryce’ Wurfhand schmerzt, und er lässt sich vom Physio bei jeder Gelegenheit Eis auf die Gelenke binden. Seine Knie schmerzen sowieso. »Es ist fast peinlich, dass ich die meisten Rebounds in dieser Serie hole«, sagt er. »Aber werfen kann ich nicht richtig.« Miro Raduljica bewegt sich heute besser, sein Kreuzbein scheint langsam wieder an die richtige Stelle zu rücken. Coach Katzurin hat ihn bei der Videoanalyse vor der versammelten Mannschaft herausgefordert: »Entscheide dich«, hat er gesagt. »Entweder du beschwerst dich oder du spielst Basketball. Deine Entscheidung.«
Sven Schultze ist ein Thermometer. Er liegt vor der Bande und absolviert seine Vorbereitungsroutine: körperstabilisierende Übungen, Stretching, Konzentration. Sven hat schwierige Wochen hinter sich. Er hat in den ersten Spielen der Serie wenig gespielt, und wenn er Spielzeit bekam, war er nicht gut. Dass ihm der Coach in der Halbzeit des vierten Spiels über den Mund gefahren ist, hat ihm zugesetzt. Er hat sich nicht beschweren wollen, er wollte keine Konfrontation, stattdessen hat er sich mit seiner Frau beraten. Sven hat wie immer weiter trainiert, er hat sich vorbildlich verhalten. Er ist schweigsamer als sonst, er behält seine Scherze für sich. Aber die Mannschaft bemerkt solche Dinge, anSven kann man die Temperatur des Teams ablesen. Er konzentriert sich. Mithat hat mit ihm gesprochen und ihm die Situation zu erklären versucht. Der Coach habe erst mal wieder Tadija ins Boot holen wollen, der brauche gerade einen gewissen Zuspruch, und Derrick habe gegen die Frankfurter von der Position fünf auf die Vier gewechselt. Svens Position, wenn auch völlig unterschiedlich interpretiert. Sven will spielen, und er weiß, dass er seiner Mannschaft helfen kann. Heute sitzen seine Eltern hinter der Bank, sie sind extra aus Bamberg angereist. Sven hat sich viel vorgenommen. »Wenn es darauf ankommt«, hat Mithat zu Sven gesagt, »dann wird sich der Coach auf dich verlassen.«
In der Kabine vor dem Spiel redet der Coach noch länger als gewohnt. »Guys, Frankfurt sieht dieselben Filmaufnahmen wie wir, sie sehen dieselben Mannschaften. Und sie sehen, dass sie sich den Rebound nehmen können, wann immer sie wollen. Heute entscheidet sich, ob wir Männer sind oder Mädchen. Seid hart. Nehmt eure Knie hoch, nicht die Eier!« Der Coach wird den lädierten Bryce gegen den erkälteten Julius austauschen. Er will das Spiel von Anfang an weit und schnell machenund die Frankfurter gleich zu Beginn zu langen Laufwegen zwingen. Er will sie müde machen. Unser Vorteil in der Mitte soll sichtbar werden, er will Yassin und Miro in
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