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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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müssen wir zumindest ab und zu den Korb attackieren.« Wenn sich Coach Katzurin in Rage redet, bricht sein Akzent durch sein Englisch, seine Konsonanten verschwimmen, und sein scharfes S wird stumpf. Der Coach hat seine Rede beendet, aber Yassins Hakenwurf hat den Coach wütend gemacht, er schüttelt sein Taktikbrett in Richtung seines Centers. »Und wenn du noch einmal so einen Wurf nimmst, Yassin, dann hacke ich dir die Hand ab. What is this? Four meter hook-shot out of nowhere? Ich hacke dir die Hand ab! Das ist hier ein ernsthaftes Spiel! Wenn ihr keinen guten Wurf habt, spielt zum Teufel noch mal weiter, bis ihr einen findet!« Der Coach sammelt sich. »Zum größten Teil war es gut, Guys, lasst uns schnell und aggressiv sein. Greift an! Push the ball! Und wenn wir die Rebounds gewinnen, gewinnen wir das Spiel. Let’s go!«

    Heiko ist heute der bessere Aufbauspieler, er jagt Wood durch die Halle, zwei Mal stellt er ihn kurz hinter der Mittellinie. Rochestie sitzt und sieht zu. Derrick Allen, der noch vor wenigen Wochen tränenüberströmt in der Kabine vom Siegen gesprochen hat, ist vor seinem ehemaligen Publikum ein zuverlässiger Scorer. Aber Frankfurt bricht immer noch nicht, einmal sind es nur vier Punkte Vorsprung. Frankfurt verlässt sich überraschenderweise auf Quantez Robertson. DaShaun Wood hat bisher noch keine zehn Punkte erzielt, aber alle rechnen damit, dass er gleich aufwacht und explodiert.
    Das Publikum ist hin- und hergerissen. In unseren Köpfen ist Raum für beide Möglichkeiten: Frankfurt kann gewinnen. Berlin kann gewinnen. Und weil das Spiel auf ein knappes Ende zusteuert, steigt die Lautstärke der Halle. Robertson verkürzt mit einem flatternden Dreier auf vier Punkte. Eine überraschend lange Weile trifft Alba vorne nicht, und als Derrick Allen sein viertes Foul kassiert, muss er auf die Bank. Coach Katzurin sieht die Bank hinunter und überlegt. Und ehe er Sven Schultzes Namen zu Ende gesprochen hat, sitzt Sven auf der Einwechselbank, er reibt sich kurz die Hände. Ich beobachte seine Eltern, ich beobachte Patrick Femerling, ich beobachte meine eigene Erwartung. Und dann betritt Sven Schultze das Feld.
    Meine bisherige Saison war bestimmt von Ereignissen, mit denen die wenigsten gerechnet haben. Ich bin gewohnt, dass meine Voraussagen nicht eintreffen. »Pass auf«, sage ich zu dem Journalisten neben mir, obwohl wir den ganzen Abend noch kein Wort miteinander gesprochen haben. »Jetzt ein Dreier von Nummer sechs.« Der Journalist sieht mich fragend an, die Uhr geht an und Schaffartzik dribbelt nach vorne. Sven hängt leicht nach, er sieht, wie Heiko sich gegen zwei Mann festzudribbeln scheint. Schaffartzik wechselt die Richtung, Sven will einen Block setzen, aber Heiko nutzt den Block nicht aus. Also bietet Sven sich an. Er steht mit ausgebreiteten Armen direkt vor der Frankfurter Bank. Ich werde mir meiner gedrückten Daumen bewusst. Ich will Berlin gewinnen sehen. Heiko sieht Sven, er passt aus dem Doppeln heraus. »He’s a microwave«, wird Taylor Rochestie später über Sven sagen. »Heats up quickly.«

    Sven Schultze fängt den Ball genau sieben Sekunden, nachdem er das Spielfeld zum ersten Mal betreten hat. Er steht fast einen Meter hinter der Dreierlinie, das Spiel steht auf der Kippe. Der Frankfurter Muurinen, blass und unfassbar langarmig, sprintet in seine Richtung, aber Sven Schultze hat vor ein paar Tagen entschieden, dass er seine Gelegenheit nutzen wird, wenn sie sich bietet. Er weiß, dass er werfen kann, und deswegen wirft er ohne das kleinste Zögern. Jedes knappe Basketballspiel hat solche Augenblicke, in denen eine einzige Entscheidung die Temperatur des Spiels verändert. Wir sehen Sven werfen, wir sehen Muurinen fliegen, wir verfolgen den Ball, der ohne den Ring zu berühren ins Netz fällt.
    Das Gefühl heißt Erleichterung.
    Erleichterung, dass ein Wagnis belohnt wird. Dass Alba jetzt wieder mit sieben vorn liegt. Dass Übermut nicht bestraft wird. Dass der Wille, etwas beizutragen, zu einem entscheidenden Beitrag wird. Dass dieser Wille nicht dumm ist, sondern das Spiel entscheidet. Wer trifft, hat recht.
    Sven wirft noch zwei weitere Dreier, einen Buzzerbeater, und die ganze Mannschaft ist im letzten Viertel derart erhitzt, dass der Sieg uns unter normalen Bedingungen nicht mehr zu nehmen ist. Ich scheue mich, an die nächste Runde zu glauben, ich schreibe
    (nicht zu früh freuen!)
    (nicht zu früh freuen!)
    (nicht zu früh freuen!)
    Aber erst als die

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