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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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warten. Flug LH 185 zum Spiel nach Frankfurt würde Patrick Femerlings letzte Auswärtsreise per Flugzeug sein.

    Die 108 Tage, in denen er um seine Rückkehr und um seine Karriere kämpfte, sollten bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Verletzungen gehören zum Basketball, Rehabilitation ist ein Teil des Berufs, und jede Sportlerlaufbahn endet irgendwann. »Ans Ende denkt man nicht«, hatte Femerling gesagt und dabei gewirkt wie ein Junge, der laut pfeifend in den Keller geht.
    Jeder weiß, dass es irgendwann vorbei sein wird, aber niemand spricht gerne darüber. Jeder Sportler will seinen Erfolg und die Anerkennung konservieren, jeder will seinen Körper vor der Zeit retten. Femerlings Kampf mit seiner Verletzung kam mir exemplarisch vor.
    »Ans Ende zu denken, wäre fatal.« Auch das war eine Wahrheit des Spiels: Wer zu oft ans Ende denkt, hat schon aufgehört. Femerling aber arbeitete weiter, um weiter spielen zu können.
    Ich beobachtete ihn, wie er zwischen den Jungs am Gate saß. Femerling fuhr nach Frankfurt, um zu spielen. Er war unterwegs, um noch einen Titel nach Hause zu holen. Mein alter Jugendtrainer redete ins Telefon. Er habe alles durchsucht, sagte er. »Die Kiste mit deinem Dunk ist weg«, sagte er. »Die Neunziger sind unauffindbar.«





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NICHT ZU FRÜH GEFREUT

    FRANKFURT, 2. JUNI 2011
    »HEUTE MACHE ICH MIR KEINE SORGEN.« Seit Tagen trägt Bobby einen Rucksack voller Arbeitspapiere und Talismane mit sich herum, er trägt seine Kreuze und Amulette und Armbänder. »Schwer bepackt«, sagt einer der Spieler, als Bobby in den Bus geklettert ist und sein Zeug auf den Sitz gewuchtet hat. »Schwer bepackt, leicht beknackt.« Seit Tagen scheint Bobby ständig bereit zur Abreise. Warum er ausgerechnet heute optimistisch ist, ist mir ein Rätsel. Er ist gut gelaunt, er lächelt und spielt mit seinen Amuletten. Er hält den Titty-Twister-Monolog. »Heute ist kein Tag, an dem man ausscheidet«, sagt er. »Heute ist ein guter Tag.«
    Schon wieder ein fünftes Spiel. Das Wetter ist perfekt, als wir aus Bad Homburg zur Halle fahren, 25 Grad und verheißungsvoller Himmel, Vatertag und Christi Himmelfahrt. Der Busfahrer spielt Walk of Life von den Dire Straits, und die Trainer summen mit. Der Busfahrer spielt Keep on Loving You von Toto, und Bobby singt. Die Spieler verstecken sich unter Kopfhörern und hinter ihrer Konzentration. Lil Wayne. Kid Cudi. Femerling telefoniert mit seiner Tochter. Wir fahren durch den Sommer auf die Halle zu, und die Trainer sprechen bereits über die Finalserie, sie sprechen über Bamberg. Bamberg hat sein fünftes und entscheidendes Spiel gegen die Artland Dragons gewonnen, jetzt bereiten sie sich bereits auf ihren Finalgegner vor. Über Bamberg zu reden, ist nicht arrogant, sondern notwendig. Wenn wir heute gewinnen, müssen die Coaches vorbereitet sein, die Zeit zwischen den Spielen ist zu kurz, um jetzt von Bamberg zu schweigen. Ich entscheide mich schon wiederfür Coldplay, Fix You, weil ein solcher Moment nach Pathos-Instrumentierung verlangt, weil entscheidende Spiele orchestral begleitet werden müssen. Weil wir gewohnt sind, dass zu großen Geschichten große Musik spielt. Mit Fix You haben wir bisher immer gewonnen. Auf dem Parkplatz warten die Berliner Fans und singen.
    In den letzten leeren Minuten vor Spielbeginn laufe ich durch die Frankfurter Ballsporthalle. Heute ist ausverkauft, die Zuschauer sind früher da als noch vor einer Woche. Es gibt Schlangen am Bierstand und Schlangen bei den Brezeln. Die Spieler beider Teams werfen sich ein, ich beobachte Wood, McKinney und Powell. Hinter dem Frankfurter Korb steht heute eine regelrechte gelbe Wand, über 300 Fans sind in Bussen gekommen. Die komplette Geschäftsstelle ist angereist. Das Fernsehen. Pascal Roller wirft sich ein. Ich zähle mit, er wirft zehn Dreier und trifft zehn Dreier hintereinander. Heute könnte sein letztes Bundesligaspiel sein.
    Am anderen Ende des Spielfelds dekliniert Femerling in aller Ernsthaftigkeit seine Post-Up-Moves durch. Sein Gesicht hat die wächserne Blässe, die es vor wichtigen Spielen immer bekommt, sein Gesicht schimmert, er arbeitet sich durch seine Bewegungen. »Man sollte niemals ans Ende denken«, hat er gesagt, aber für einen der beiden ist heute das Ende erreicht. Roller oder Femerling spielt heute zum letzten Mal. Für Frankfurt oder Berlin ist die Saison heute zu Ende.
    Eine ernsthafte Spannung hängt in der Halle (ich bilde mir ein, dass der Popcorngeruch

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