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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pletzinger
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Berlin, er kannte den Laden. Deswegen hatte er hundert Aufgaben: Im Trainerstab war er der Hauptansprechpartnerfür Pavi ć evi ć , er koordinierte und organisierte die taktische Vorbereitung und Videosichtung. Er kannte die Spielzüge aller Gegner inklusive sämtlicher Variationen auswendig, er aktualisierte dieses Wissen ständig und stellte die Taktikpapiere für die Spieler zusammen. Er sagte mir, dass er lieber häufiger in der Halle stehen würde, um individuell mit den Spielern zu arbeiten, an ihrem Wurf oder ihrem Defensivverhalten, an ihren basketballerischen Grundlagen. Allerdings musste er unzählige organisatorische Aufgaben übernehmen. Oft war er der Schnittpunkt zwischen Geschäftsstelle und Mannschaft, weil Coach Pavi ć evi ć aus Prinzip keine E-Mails las und Professor Mika keine Sprache sprach. Wenn man ins Büro kam, saß Konstantin Lwowsky immer am Computer oder telefonierte. Wie viele Menschen, die ihren Beruf lieben, hatte Konstantin Lwowsky zu wenig Zeit. In seiner seltenen Freizeit half er seinem dreizehnjährigen Sohn David bei Physikaufgaben und Deutschaufsätzen. Er liebte Filme, und wenn ihr Dienstplan es erlaubte, saß er mit seiner Frau Silke in den Spätvorstellungen des Kinos am Friedrichshain. Konsti schlief zu wenig. Er fuhr mit öffentlichen Verkehrs mitteln zur Arbeit, damit er in der U-Bahn lesen konnte. Er hatte fast keine Zeit, also lief und schlief er im Trainingslager und auf Auswärtsfahrten. Und am freien Tag verlor er beim Tennis gegen Mithat Demirel.
    Um kurz vor zehn sammelten sich die Spieler in der Lobby des Hotels, die Kissenabdrücke noch im Gesicht. Ein Hotelgast mit Lodenhut, Wanderstock und Goretex-Jacke lief zielstrebig auf Femerling zu:
    »Sie! Wie ist die Luft da oben?«
    »Nun. Ja.«
    »Dünn, oder? Wir sind hier ja im Höhentraining. Spaß beiseite: Wie groß sind Sie?«

    Femerling besitzt für diese Gelegenheiten ein freundliches Lächeln. »Was soll man dazu sagen?«, sagte er, als die Frau des Gastes ihn und den Gast fotografiert hatte. Er führe diesen Größendialog ständig und überall, an Flughäfen und beim Bäcker, im VIP – Bereich und im Möbelladen, auf Deutsch, Italienisch, Griechisch, Englisch, Holländisch. Selbst vor dem Frühstück. Und seit es Handykameras gebe, auch meist mit Foto. Das sei Teil des Berufs. Den meisten sei es egal, dass er Basketballspieler sei. In seiner Karriere sind schätzungsweise 15.000 solcher Bilder von Femerling gemacht worden, sie hängen an Wohnzimmerwänden in Piräus und Pforzheim, in Restaurants in Barcelona, in Oldenburger Pizzerien. Die anderen Spieler wurden heute Morgen in Ruhe gelassen. Niemand sagte ein Wort, nur Schultze gackerte leise, weil Femerlings Frisur so früh morgens aussah wie ein Vogelnest. Jenkins versteckte sich unter seinen Kopfhörern. Alle warteten auf Luka Pavi ć evi ć und betraten den rustikalen Frühstückssaal mit Kamin erst, als der Coach kam.
    Der Kader war noch nicht komplett. Pavi ć evi ć saß vor seinem täglichen Balkanfrühstück, Obst, Paprika und Knoblauch, dazu schwarzen Kaffee. Er aß Pfannkuchen mit Zucker. Zuerst rollte er fünf, dann seufzte er, dann aß er und lachte dabei in sich hinein vor Genuss. Pavi ć evi ć brach sein Brot. Mit dem Messer zeichnete er Spielzüge auf die Tischdecke. Der Coach murmelte vor sich hin und sprach ein paar Worte mit Professor Mika und Dejan Mijatovi ć .
    Die Spieler frühstückten ohne überflüssige Worte. Mithat Demireltrank in der Lobby Espresso und telefonierte mit Manager Marco Baldi in Berlin. Man war mit acht gestandenen Spielern ins Trainingslager gefahren, die restlichen vier Plätze waren mit Nachwuchs besetzt worden. Yassin Idbihi und Lucca Staiger waren noch mit der deutschen Nationalmannschaft unterwegs, im Spätsommer würde die Weltmeisterschaft in der Türkei gespielt werden. Demirel und Baldi waren in ständigem Kontakt mit Agenten und Spielern, in Absprache mit Coach Pavi ć evi ć führten sie die Verhandlungen.
    Grundsätzlich lief alles nach Plan, aber Pavi ć evi ć war vorsichtig. »Im professionellen Basketball muss man sich gegen alle Eventualitäten absichern«, sagte er, »alles kann passieren, also müssen wir uns gegen alles schützen!«
    Die Mannschaft brauchte noch einen Spieler, um sich in fünf Wochen für die Euroleague qualifizieren zu können, die Königsklasse des europäischen Basketballs. Das Team brauchte eine kurzfristige Vertretung für Lucca Staiger, der in Pavi ć evi ć s Plan eine

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