Gentlemen, wir leben am Abgrund
seinen Wurf wiedergefunden und das Spiel gegen Frankfurt entschieden, er war in Berlin und bei Alba angekommen.
Bryce hasste die sommerlichen Vertragsverhandlungen und das Warten auf die Entscheidung, wo man die nächste Saison verbringen würde. Aber er wusste, dass das Warten nötig war. Ihm war es nicht egal, wo er sich befand, er wollte Orte kennenlernen und begreifen. Bei Auswärtsspielen ging er oft spazieren, wenn die anderen noch schliefen. In Hagen. Trier. Treviso. Bryce konnte gut allein sein, aber er mochte Gesellschaft. Im Frühjahr würde seine Schwester Terbrie für drei Monate nach Berlin kommen. Was er gerade höre, fragte ich ihn. »Das beste Lied von Arcade Fire«, sagte er und lehnte sich zurück, »Wake Up.«
Am frühen Abend blieb der Zug auf offener Strecke stehen. Die Spieler sammelten sich im Speisewagen, der Kellner kam mit den Bestellungen nicht nach. Jemand sagte, wir befänden uns kurz hinter Ingolstadt. Der Coach und Professor Mika hatten einen Sitzplatz am anderen Ende des Zuges, auf den Gängen lagerten Fahrgäste, Koffer und Kinderwagen.
Das Spiel hieß Buffalo, Hollis Price war der Spielleiter. Er saß auf einem Tisch in der Mitte des Speisewagens und instruierte die Mitreisenden. Wer seine Flasche mit der rechten Hand griff, hatte verloren. Der Speisewagen brüllte »Buffalo!«, und der Verlierer musste seine Bierflasche mit links greifen und in einem Zug leeren. Der Speisewagen spielte mit, zwei junge Russen mit Pelzmützen, eine Italienerin in Snowboardstiefeln, ein Orchestermusiker. Ein Nürnberger Pendler lockerte die Krawatte, eine rüstige Seniorin aus Stuttgart leerte ein randvolles Rotweinglas. »Buffalo!«, schrie Marinovi ć , und Staiger machte Musik. Es kam zu russischem Wodka, es kam zu Cognac mit Cola, es kam zu Gesang.
Gegen neun kam das Rote Kreuz und brachte Decken und Hagebuttentee. Der Zug würde die Nacht über festgesetzt werden, der Thüringer Wald vor uns sei meterhoch verschneit. Ein Pünktlichkeitsfanatiker verpasste dem traurigen Schaffner einen linken Haken, die Spieler verhinderten das Schlimmste.
»Buffalo!«, sang Marinovi ć und kippte eine Tasse Tee.
Ich kämpfte mich zu den Coaches durch, sie justierten die Pläne und verschoben das Training um weitere sechs Stunden nach hinten. »Let’s get a hotel«, sagte der Coach. Wir stiegen aus. Aber in Nürnberg waren sämtliche Hotels belegt. »Christkindlesmarkt«, sagte eine Taxifahrerin, »was denken Sie?«
Marinovi ć hielt immer noch seine Plastiktüte mit Neapolitaner Büffelmozzarella in der Hand. »Mozzarella di Buffalo«, sagte Yassin und leerte sein Bier in einem einzigen Schluck. Die Mannschaft verlor ihre einzige warme Jacke irgendwo am Nürnberger Hauptbahnhof.
Wir wechselten auf einen Bus und schlingerten sechzig Kilometer über die Autobahn nach Norden, der Coach beobachtete die tanzenden Schneeflocken im Scheinwerferlicht. Gegen vier Uhr nachts erreichten wir Bamberg. Zwanzig Stunden nach dem italienischen Frühstück von Neapel kotzte Marko Marinovi ć hinten in den Bus. Das Team war müde. Das Team fror. Das Team schwieg betreten. Der Bus rutschte durch die schmalen Straßen. Die Angst war zu spüren.
Als wir in die Auffahrt des Hotels bogen, ahnte die Mannschaft die Konsequenzen für ihren Aufbauspieler. Ich saß auf meinem Platz und rechnete mit einer Explosion. Der Coach würde es nicht bei einer Geldstrafe belassen. Aber Pavi ć evi ć stand auf und stieg schweigend aus. Erschien nichts gehört oder gerochen zu haben. Vielleicht wollte er einer nächtlichen Konfrontation aus dem Weg gehen, vielleicht wollte er nicht impulsiv reagieren. »Marinovi ć is a happy fool«, hatte er vor ein paar Tagen gesagt. »He is a good kid. Er will immer gewinnen.«
Die Coaches folgten ihrem Chef, und die Spieler kümmerten sich um Marinovi ć , der schon wieder grinsen konnte. »Welcome to Freak City, Marko«, sagte er zu sich selbst und ließ sich samt Pelzmütze und Mozzarellatüte ins Hotel transportieren. Yassin Idbihi warf einen Schneeball an den Schriftzug über dem Eingang, Hotel Residenzschloss. Eine übermüdete Kampfansage. Irgendjemand würde den Bus säubern müssen, denn in ein paar Stunden würde die Fahrt weitergehen.
Am nächsten Morgen war die Bildzeitung da und fotografierte: Femerling mit Käsebrötchen, Marinovi ć mit Kaffee und Augenringen, Jenkins mit Kopfhörern. Sven Schultzes Eltern kamen durch den Schnee gestapft, weil ihr Sohn unerwartet in seiner Heimatstadt
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