Gentlemen, wir leben am Abgrund
Station machte. Mithat Demirel hatte einmal in Bamberg gespielt und kannte sich aus, also hatte er einen sauberen Reisebus für die Fahrt nach Berlin organisiert.
Deutschland steckte unter einer Schneedecke. Wir trugen die Hemden von gestern, unser Gepäck würde erst nächste Woche nachgeliefert werden. Der Schnee glitzerte in der Sonne, als wir losfuhren, wir waren zuversichtlich. Pavi ć evi ć hatte das erste Training für den Abend angesetzt. Der Coach hatte die ganze Nacht gearbeitet, er hatte Videos gesichtet und die Taktik gegen den nächsten Gegner Braunschweig konzipiert. Seine nachdenkliche Wut vom Vorabend schien einem übernächtigten, aber komischen Sarkasmus Platz gemacht zu haben. Als wir die Autobahn erreichten, lieh er sich das Agassi-Buch aus und begann zu lesen.
Die Akkus der Telefone gingen zur Neige, also mussten sich die Spieler unterhalten. Es gab nur ein einziges Ladegerät im Bus. Bryce sah aus dem Fenster. Reiseeuphorie , notierte ich, in Franken eine derartig saubere Sonne, dass man schneeblind wird (also Augen zu Schlitzen). Klassenfahrtgeräusche. Später R.E.M, You Are the Everything , gutes Reiselied; Bryce schräg hinter mir lacht im Schlaf (es gibt solche Leute); später Bockwurst samt Senf an einer Tankstelle? Gute Situation für eine Mannschaft (Teambuilding).
Eine Stunde lief der Verkehr flüssig Richtung Berlin, bergauf, bergab, die Autobahn ein schmaler Pfad durch die gleißend weißen Hügel und Felder, Laster um Laster um Laster, die Sonne zur Rechten. Sämtliche Privatmenschen waren zu Hause geblieben. Wir näherten uns der deutsch-deutschen Grenze. Pavi ć evi ć las, die Spieler alberten herum. Als hinter einer Kuppe der Verkehr erst ins Stocken geriet und dann gänzlich stoppte, winkte Luka mich nach vorn. Er blätterte in Agassis Buch und schien eine bestimmte Stelle zu suchen. »Life will throw everything but the kitchen sink in your path«, sagte er und zeigte auf die Bremslichter der Lkws vor uns. »And then it will throw the kitchen sink.«
Wir standen im Stau, und Coach Pavi ć evi ć erklärte, wie zerbrechlich jede Saison ist. »Alles kann ganz leicht auseinanderfallen«, sagte er. »Wenn du den Moment aus den Augen verlierst und vergisst, warum du da bist und was von dir erwartet wird. Wenn du nachlässt. Weich wirst. Wenn du die kleinen Zeichen ignorierst. Willst du ein wirklich guterBasketballprofi sein, musst du immer professionell sein. Du musst professionell trainieren, spielen und professionell mit Menschen umgehen. Du musst sogar professionell schlafen . Du musst dich professionell erholen. Das Ganze ist ein Business, also musst du professionell existieren .«
Der Bus kam keinen Meter voran. Hinter der Leitplanke türmte sich der Schnee hüfthoch. »Vier Stunden Komplettstillstand«, sagte der Busfahrer, »vielleicht sechs. Aber da vorne kommt eine Tankstelle.«
Pavi ć evi ć seufzte. »Im professionellen Sport musst du die Chancen nutzen, wenn du sie bekommst. Es gibt ein Sprichwort: Zuerst kommt der goldene Wagen, dann kommt der silberne Wagen, dann ist es nur noch der bronzene. Warum also Zeit verschwenden?« Wir warteten, wir sahen den Ziffern der Uhr zu, 12.21, 12.25, 13.10. Wir hofften auf Weiterfahrt, aber nichts bewegte sich. 13.40, 13.47. »Klo ist voll!«, rief irgendwann jemand von hinten, also öffnete der Busfahrer die Türen. Die Spieler standen einer neben dem anderen an der Leitplanke und pinkelten in den Schnee. »Ein professionelles Basketballteam würde jetzt A L B A B E R L I N !! buchstabieren«, sagte Luka Pavi ć evi ć . »Aber die Jungs entscheiden sich wahrscheinlich für ihre eigenen Namen. Und dafür reichen Platz und Tinte nicht.«
Der Coach lachte und klappte das Buch wieder auf. »Gutes Buch«, sagte er. »Ich werde ein paar Dinge daraus verwenden. Seite sieben zum Beispiel. Hör zu.« Coach Pavi ć evi ć begann zu lesen. »I remind myself that it will require iron discipline to cope with these forces, and whatever else comes my way. Back pain, bad shots, foul weather, self-loathing.« Pavi ć evi ć hatte seit Wochen Rückenprobleme und Schnupfen, seine Mannschaft spielte nicht so gut, wie er wollte. Die Sonne stand jetzt links von uns, der Schnee glitzerte, die Uhr zeigte 14.09 Uhr.
Der Coach glaubte an Zeichen und Zusammenhänge, er wiederholte seine Pläne und Ideale wie Mantras. »It’s a form of worry, this reminder, but also meditation«, las Pavi ć evi ć . Er kannte das Geschäft, er rechnete immer
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