Georgette Heyer
war. «Oh, innerhalb der Tore», sagte er in spröder Selbstverspottung,
«werde ich mich daran erinnern, daß ich zumindest als Gentleman erzogen wurde!»
5
Venetia öffnete die Augen in dem von den
Chintzvorhängen gedämpften Sonnenlicht. Einige Minuten lang lag sie zwischen
Schlafen und Wachen da und wurde sich, zunächst vage und dann immer stärker,
eines Wohlbehagens und einer Erwartung bewußt, so wie sie in ihrer Kindheit
erwacht war, wenn sie wußte, daß der Tag einer versprochenen Freude
heraufdämmerte. Irgendwo im Garten sang eine Drossel, und die freudige Süße
ihrer Töne war so sehr im Einklang mit Venetias Stimmung, daß der Gesang ein
Teil ihres Glücklichseins zu sein schien. Eine Weile gab sie sich damit
zufrieden, froh, dem Vogel zuzuhören, ohne sich nach der Quelle ihrer beider Glück zu fragen.
Gleich darauf aber wurde sie hellwach und erinnerte sich daran, daß sie einen
Freund gefunden hatte.
Sofort schien ihr Blut schneller in
den Adern zu kreisen; ihr Körper fühlte sich leicht und voll Leben, und eine
seltsame Erregung, die ihr ganzes Wesen wie ein Elixier durchströmte, machte
es ihr unmöglich, stillzuliegen. Kein Laut außer dem Vogelgesang drang an ihre
Ohren, Stille umschloß das Haus. Sie dachte, es müsse sehr früh sein, drehte
den Kopf zur Seite und versuchte wieder einzuschlafen. Es gelang ihr nicht. Das
Sonnenlicht, gefleckt durch das Chintzmuster, quälte ihre Augenlider; sie
schlug die Augen auf und gab einer Eingebung nach, die beharrlicher war als
Vernunft. Ein neuer Tag, lebendig mit neuer Verheißung, machte sie prickeln;
das Trillern der Drossel wurde Verlockung und Befehl. Venetia schlüpfte aus dem
drückend weichen Federbett, ging schnell und federnd zum Fenster, schlug die
Vorhänge zurück und warf die Fensterläden auf.
Ein Fasan, der über den Rasen
schritt, erstarrte einen Augenblick, den Kopf hoch erhoben auf dem
schimmernden Hals, und ging dann, als wüßte er, daß er noch ein paar Wochen
lang sicher war, wieder würdevoll weiter. Der Herbstnebel hob sich aus den
Mulden; dichter Tau glitzerte auf dem Gras, und den Himmel verschleierte ein
leichter Dunst. In der Luft lag ein Frösteln, das einen selbst in der
Sonnenwärme erschauern ließ, aber es würde wieder ein heißer Tag werden, ohne
eine Spur Regen und mit einem so leichten Wind, daß er die vergilbenden Blätter
nicht von den Bäumen flattern lassen würde.
Jenseits des Parks, über den
Heckenweg hinweg, der Undershaw im Osten abschloß, jenseits der weiten
Schonungen des Gutes, lag die Priory – nicht allzu
weit in der Luftlinie, aber die Straße entlang eine Fahrt von fünf Meilen.
Venetia dachte an Aubrey, ob er wohl in der Nacht geschlafen hatte, ob sie sich
noch viele Stunden würde vertreiben müssen, bevor sie wegfahren konnte, um ihn
zu besuchen. Und dann wußte sie, daß es nicht Besorgnis um Aubrey war – ihr
wichtigstes Anliegen so viele Jahre hindurch –, was sie ungeduldig machte, die
Priory zu erreichen, sondern der heiße Wunsch, bei ihrem Freund zu sein. Es war
sein Bild, das Aubreys Bild aus ihrem Geist verdrängte und ihr eine so glühende
Wärme schenkte. Sie fragte sich, ob auch er es so spürte, ob auch er wach war,
vielleicht aus seinem Fenster schaute, wie sie aus dem ihren, an sie dachte,
hoffte, daß sie bald wieder bei ihm sein würde. Sie versuchte sich an das zu
erinnern, was sie miteinander gesprochen hatten, aber es gelang ihr nicht. Sie
erinnerte sich nur, daß sie sich bei ihm vollkommen daheim gefühlt
hatte, als hätte sie ihn schon ihr ganzes Leben lang gekannt. Es erschien ihr
unmöglich, daß er die Sympathie zwischen ihnen beiden nicht genauso stark
gefühlt haben sollte wie sie. Aber als sie eine Weile nachgedacht hatte, erinnerte
sie sich, wie verschieden ihre Lebensumstände voneinander waren, und erkannte,
daß das, was für sie ein neues Erlebnis war, für ihn sehr gut nicht mehr als
die Variation eines alten Themas bedeuten konnte. Er hatte viele Frauen
geliebt. Vielleicht hatte er auch viele Freunde gehabt, deren Gemüt mehr auf
seines abgestimmt war als das ihre. Das bekümmerte sie mehr, als seine
Liebschaften es taten. Seine Liebesaffären kümmerten sie so wenig wie seine
erste Begegnung mit ihr. Die hatte sie verärgert, aber sie hatte sie weder
entsetzt noch ihren Abscheu erregt. Die Männer – man sehe sich die ganze
Geschichte an! – unterlagen plötzlich aufwallenden Lüsten und
Gewalttätigkeiten, Angelegenheiten, die seltsam von Herz
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