Georgette Heyer
Wochen, aber jetzt bin ich im
Vollbesitz meiner geistigen Kräfte.»
Ihr
ursprünglicher Verdacht, daß er betrunken sei, machte nun allmählich dem
Begreifen des wahren Sachverhalts Platz. «Aber Mr. Comyn, Sie sind doch mit
Juliana Marling verlobt», sagte sie.
In seiner
Stimme schwang unverkennbare Bitterkeit, als er antwortete: «Ich schätze mich
glücklich, Ihnen mitteilen zu können, Madam, daß Miss Marling und ich ein uns
beiden inzwischen als Last erscheinendes Versprechen gelöst haben.»
«Oh!»
seufzte Mary unglücklich. «Dann haben Sie also mit Juliana gestritten? Mein lieber
Sir, ich weiß nicht, was zwischen Ihnen vorgefallen ist,
aber wenn Juliana die Schuld daran trifft, wird es ihr bestimmt bald leid tun.
Gehen Sie zu ihr zurück, Mr. Comyn, und Sie werden sehen, daß ich recht habe.»
«Sie irren,
Madam», sagte er kurz. «Ich spüre nicht das geringste Verlangen, zu Miss
Marling zurückzukehren. Bitte denken Sie nicht, daß mich
eine plötzliche Gereiztheit zu Ihnen führt. Schon seit einer Woche ist mir die
Torheit unseres Verlöbnisses bewußt. Miss Marlings Betragen ist nicht von der
Art, wie ich es mir für meine zukünftige Frau wünsche, und ihren Entschluß,
mich meiner Verpflichtungen zu entbinden, kann ich nur als die größte Gunst
erachten, die sie mir je erwies.»
Miss
Challoner wurde bei dieser furchtbaren Eröffnung ganz blaß und setzte sich
schwach auf das Sofa. «Aber das ist ja schrecklich, Sir!»
sagte sie.
«Bestimmt sind Sie vor Zorn noch außer sich, und wenn Sie erst Zeit gehabt
haben, in Ruhe darüber nachzudenken, werden Sie Ihren übereilten Entschluß
bedauern.»
«Madam, ich
empfinde keineswegs Zorn, sondern nur unendliche Erleichterung. Ob Sie mein
Angebot nun annehmen oder nicht – meine Verlobung
mit Miss Marling bleibt gelöst. Ich will Ihnen weder verheimlichen,
daß ich glaubte, sehr verliebt in sie zu sein, noch beabsichtige ich, Ihre
Intelligenz dadurch zu beleidigen, daß ich Ihnen gegenüber eine
Leidenschaft heuchle, die zu empfinden mich die kurze Dauer unserer
Bekanntschaft naturgemäß Lügen strafen würde. Wenn Sie sich – zumindest für
den Augenblick – mit meiner tiefen Achtung und meinem Respekt
begnügen wollen, werde ich mich glücklich schätzen, eine Frau zu bekommen,
deren Charakter und Manieren meine aufrichtigste Bewunderung besitzen.»
«Aber es
ist unmöglich!» sagte Mary, die sich noch immer wie betäubt fühlte. «Zwischen
Ihnen und Juliana kann doch nicht einfach alles zu Ende sein?»
«Sogar
unwiderruflich, Madam!»
«Oh, das
tut mir ja so leid!» rief Mary voller Anteilnahme. «Und was Ihr Angebot
betrifft, danke ich Ihnen von ganzem Herzen, aber wie sollten wir beide
heiraten, wo wir uns kaum kennen, geschweige denn lieben?»
«Bei jeder
anderen Gelegenheit, Madam, fände ich eine solche Hast verwerflich», sagte er
ernst. «Aber so wie die Dinge liegen, sind Sie gezwungen, so rasch wie möglich
in einer Ehe Zuflucht zu suchen. Madam, gestatten Sie mir, mit einer Offenheit
zu sprechen, die Sie vielleicht impertinent finden werden. Ich glaube, wir
beide würden diesen Schritt mit einem wehen Herzen tun. Verzeihen Sie, Miss
Challoner, aber ich habe Sie beobachtet, und Ihr Verhalten hat mir gezeigt, daß
Ihnen Lord Vidal durchaus nicht gleichgültig ist. Ich frage Sie nicht nach dem
Grund, warum Sie seinen Antrag ausschlagen. Ich sage nur, jeder von uns hat
eine schwere Enttäuschung hinter sich. Wollen wir nicht gemeinsam versuchen,
darüber hinwegzukommen?»
Sie schlug
die Hände vors Gesicht. Das alles brach so unerwartet über sie herein, daß sie
keinen klaren Gedanken fassen konnte. Hier war er, der heißersehnte
Rettungsanker, und dennoch scheute sie sich, ihn zu ergreifen. «Bitte gehen Sie
jetzt, Sir. Ich muß nachdenken. Ich weiß, ich sollte Ihr Angebot ablehnen, aber
meine Lage ist so hoffnungslos, daß ich nicht einmal diese Entscheidung zu
treffen wage, ohne mir vorher alles in Ruhe zu überlegen. Ich muß unbedingt
Juliana sprechen, denn ich kann kaum glauben, daß sich wirklich alles so
verhält, wie Sie es mir erzählten.»
Er nahm
sofort seinen Hut. «Ihr Wunsch ist mir Befehl, Madam. Bitte denken Sie gut
über meine Worte nach. Sie erreichen mich bis morgen mittag an meiner
gegenwärtigen Adresse. Wenn ich bis dahin keine Nachricht von Ihnen erhalte,
verlasse ich Paris. Erlauben Sie mir nun, Ihnen eine gute Nacht zu wünschen.»
Er verbeugte sich und verließ den Raum. Ein paar Sekunden später erhob
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