Georgette Heyer
beunruhigter
Ausdruck. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, seinen langen Fahrmantel mit
den vielen Schulterkragen abzulegen. Seine Augen durchliefen hastig den Raum
und blieben auf seiner Frau haften. Er stürzte auf sie zu und sagte, die übrige
Gesellschaft völlig ignorierend, mit bebender Stimme, die Nell kaum
wiedererkannte: «Nell! Gott sei gelobt! Oh, mein geliebter Liebling, verzeihe
mir!»
«Giles! O
nein. Ich war an allem schuld», rief sie und stürzte sich in seine Arme. «Und
es ist noch viel ärger, als du bisher weißt. Letty ist mit Mr. Allandale
durchgebrannt!»
«Ach was,
lassen wir diese verwünschte Letty», rief er und zog sie stürmisch in die Arme.
«Du bist zu mir zurückgekehrt – und sonst hat nichts auch nur das geringste zu
bedeuten.»
Mr.
Hethersett, welcher seine Augen von dieser leidenschaftlichen Umarmung mit
großem Takt abwandte, begann sein Monokel zu polieren. Der Viscount verharrte
wie vom Donner gerührt in starrem Schweigen. Und Mr. Fancot, nachdem er das
außerordentliche Schauspiel, das sich ihm bot, blinzelnd betrachtet hatte,
erhob sich behutsam und zog seinen Freund am Ärmel. «Glaube, wir sollten uns
zurückziehen, Dy», sagte er leise. 's ist keine Belustigungsart, die ich
besonders schätze, lieber Junge. Trolle mich schleunigst davon.»
«Verdammt,
wenn ich da mitmache», erwiderte Dysart. «Ich will mit Cardross sprechen und
werde es auch tun.»
Cardross,
der sich seiner Umgebung wieder bewußt wurde, sah auf. Ein wenig errötend, ließ
er Nell aus seinen Armen. «Los, Dysart, was willst du von mir?»
«Das möchte
ich dir unter vier Augen sagen», erklärte der Viscount, in dem sich die Wirkung
der zahllosen Getränke abzuschwächen begann.
«Ich
verstehe nicht, weshalb du plötzlich unter vier Augen mit ihm sprechen willst»,
sagte Nell mit ungewöhnlicher Schärfe. «Da du doch, ohne die geringste
Rücksicht auf wen immer – nicht einmal auf den Droschkenkutscher – die
abscheulichsten Dinge sagtest. Ganz davon zu schweigen, daß du versuchtest, den
armen Felix in der beleidigendsten Weise herauszufordern! Oh! Giles, bitte, sag
ihm, daß er das nicht tun darf!»
«Warum in
aller Welt sollte er es tun wollen?» fragte Cardross erstaunt und amüsiert.
«Der dumme
Kerl sah Mylady, wie sie in meiner Begleitung aus Mr. Allandales Wohnung kam,
und beharrte darauf, daß es mein Haus sei», sagte Mr. Hethersett kurz und
bündig, in Erwiderung auf die Frage in den lachenden Augen seines Cousins.
«Ach was!
So sieht die Geschichte plötzlich aus?» rief der Viscount. «Nun, das soll Ihnen
aber nicht gelingen. Sie haben nämlich nicht daran gedacht, es mir zu erzählen,
was? Und warum nicht? Das möchte ich gerne wissen. Warum nicht, he?»
«Weil Sie
zu verwünscht betrunken waren, um ein Wort von dem zu verstehen, was man Ihnen
sagte», erwiderte Mr. Hethersett mit brutaler Offenheit.
«Und
keinesfalls lag ein Grund vor, Dy, dich in so abscheulicher Weise
aufzuführen», warf Nell vorwurfsvoll ein. «Selbst wenn es Felix' Haus gewesen
wäre, und das war ebenso leicht möglich, da ich die Absicht hatte, ihn
aufzusuchen, um Mr. Allandales Hausnummer von ihm zu erfahren. Nur einem
glücklichen Zufall habe ich es zu verdanken, daß er eben aus dem Haus trat, als
ich den Droschkenkutscher entlohnte.»
«Soso! Du
hast das alles ja prächtig parat, mein Mädchen, was?» sagte Dysart. «Und
vermutlich nimmst du auch an, daß damit alles in schönster Ordnung ist. Nun,
darin irrst du. Schönes Betragen für eine vornehme Dame, jedem Bruder
Liederlich Londons Besuche zu machen, das muß ich sagen! Noch dazu in einer
gewöhnlichen Mietsdroschke. Nun, Cardross, das mag vielleicht deinen
Vorstellungen von Schicklichkeit entsprechen, den meinen aber nicht. Das möchte
ich dir klarmachen!»
«Dy, wie
kannst du dich nur so lächerlich benehmen?» protestierte Nell. «Niemand würde
den armen Mr. Allandale auch nur einen Moment für einen Bruder Liederlich
halten ...»
«Verwünscht,
Cousine», rief Mr. Hethersett empört.
«Mein
lieber Dysart, laß dir versichern, daß ich dich für diese Gefühle ehre und deine
Ansichten vollinhaltlich teile», sagte Cardross. «Du kannst die Angelegenheit
getrost mir überlassen.»
«Das ist's
eben, was ich scheinbar nicht kann», erwiderte Dysart. «Ja, und das bringt mich
auf eine andre Sache, die ich dir zu sagen habe. Warum zum Teufel sorgst du
nicht besser für Nell? Hast du sie etwa aus ihrer lächerlichen Patsche
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