Georgette Heyer
Nells engelsgleichen Augen. «Meine Liebe, du
bist doch bestimmt nicht so unkultiviert, um schon zu Beginn des Balls dort
eintreffen zu wollen!»
«Ich
glaube, er wird überhaupt nicht herkommen», sagte Letty verärgert.
Dies
erschien Dysarts erfahrener Schwester mehr als wahrscheinlich, doch ihre
Loyalität, ebenso wie ihr Widerstreben, ohne männliche Begleitung nach
Chiswick zu fahren, bestärkten sie in dem Entschluß, den Landauer keinen Moment
früher als zehn Uhr vor dem Palais vorfahren zu lassen. Inzwischen war die Zeit
bereits so weit vorgerückt, daß sie nach dem Dinner nicht mehr lange zu warten
hatten, ehe Farley meldete, daß der Wagen Myladys vorgefahren sei. Dysart war
noch nicht erschienen, und obwohl ihm seine liebevolle Schwester gerne noch
eine Gnadenfrist gegeben hätte, wagte sie es nicht vorzuschlagen, als sie
Lettys zornflammende Blicke bemerkte. Die beiden Dominos, einer rosenfarben,
der andre saphirblau, wurden angezogen, lange französische Glacéhandschuhe
übergestreift; die Masken wurden in den Retikülen verwahrt und die Abendmäntel
sorgfältig über die Seidendominos gelegt. Auf Zehenspitzen stehend, wurde ein
letzter Blick in den goldgerahmten Spiegel über dem Kaminsims geworfen, und die
Damen waren bereit, über die Treppe geleitet und in den wartenden Wagen gehoben
zu werden. Ihre beiden Kammerfrauen waren eifrig um sie bemüht, hier wurde
eine zarte Schleppe arrangiert, dort ein Schal über die Knie gebreitet. Lettys
Martha, auf ihre langjährigen Dienste pochend, warnte ihre junge Herrin,
keinesfalls mehr von dem «Bloom de Ninon» auf ihren bereits
vollkommenen Teint aufzutragen; und Nells majestätische Kammerfrau bat sie,
darauf zu achten, daß ihre elfenbeinfarbene Satinschleppe beim Aussteigen die
Stufen des Wagens nicht berühre.
Diese
Stufen wurden schließlich hochgeklappt und die Tür geschlossen. Die Lakaien
sprangen behende hinten auf, der Kutscher setzte seine Pferde in Bewegung und
der Landauer schwankte über das Kopfsteinpflaster davon.
Es war
weder Nell noch jemanden ihrer Dienerschaft eingefallen, daß eine Fahrt nach
Chiswick irgendeine Gefahr in sich bergen könnte, daher hatte es auch niemand
für notwendig erachtet, die Equipage mit Vorreitern zu versorgen, um sie vor
möglichen Straßenräubern zu schützen. Denn niemand hatte vorausgesehen, daß
der Wagen, anstatt sich einer Prozession von Vehikeln, welche gleichfalls nach
Brent House fuhren, anzuschließen, der letzte sein würde, um mit mehr als
einer halben Stunde Verspätung dort einzutreffen. Jenseits des ersten
Schlagbaums war kaum noch ein Verkehr festzustellen. Das Dorf Kensington schien
bei strahlendem Mondschein zu schlafen, in Hammersmith begegneten ihnen bloß
ein Postwagen und eine Privatkutsche, die aus dem Westen kamen; weit und breit
war kein anderes Gefährt vor ihnen zu erblicken, außer einer Postkutsche, deren
vier muntere Pferde in raschem Tempo dahintrabten. Nachdem der Postillion auf
seiner meterlangen Blechtrompete einen lauten Warnungsstoß abgegeben hatte,
überholte die Kutsche den Wagen der beiden Damen. Kurz darauf bogen sie von
der Hauptstraße ab und in die Chiswick Mall ein. Letty meinte soeben: «Nun,
jedenfalls war die Fahrt nicht annähernd so unangenehm, wie wenn wir gezwungen
gewesen wären, hinter irgendeinem alten Kumpelkasten herzufahren», als die
Damen plötzlich auf recht unangenehme Weise durch einen Pistolenschuß, gefolgt
von einem Gewirr beunruhigender Geräusche, aufgeschreckt wurden. In diesem
Aufruhr mischten sich das Gewieher erschrockener Pferde, Hufegetrappel und
verschiedene rauhe Stimmen, die entweder im Befehlston oder in erregtem Protest
erhoben wurden.
Letty
begann vor Angst zu weinen, sie klammerte sich an ihre Schwägerin und rief in
steigender Panik: «Was sollen wir tun? Was wird mit uns geschehen? O Nell, man
hat uns überfallen! Warum tun diese Feiglinge von Lakaien denn nichts? Aber an
dem allen ist nur dieser Dysart schuld! Werden sie uns töten? Ach, ich wollte,
wir wären nicht hergefahren!»
Nell war
selbst nicht übertrieben mutig, doch sie war aus weit härterem Stoff gemacht,
und es gelang ihr in anerkennenswerter Weise, ihre Stimme zu beherrschen,
während sie sagte: «Unsinn! Natürlich werden sie uns nicht ermorden! Ich
fürchte allerdings, daß sie uns unsern Schmuck wegnehmen werden. Dem Himmel sei
Dank, daß ich weder das Halsband der Cardross trage noch meine kostbaren
Saphire.»
«Gib ihnen
nur alles», bat Letty
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