Georgette Heyer
törichterweise über eine zu lange Zeit
ausgedehnt. Nell verstand vollkommen, wie verderblich fortgesetztes Borgen werden
konnte, es war aber bestimmt lächerlich anzunehmen, daß sich etwas ganz Entsetzliches
ereignen könnte, wenn man sich dreihundert Pfund bloß für einige Wochen
auslieh. Man würde sie Ende Juni zurückzahlen, und niemand brauchte je etwas
davon zu erfahren. Je länger sie diesen Plan überlegte, desto annehmbarer
erschien er ihr, und desto stärker neigte sie dazu, Dysarts strenge Haltung
einer veralteten Vorstellung von Schicklichkeit zuzuschreiben. Selbst der
sorgloseste Bruder konnte erstaunlich spießig sein, wenn es sich um das
Benehmen der Damen seiner eigenen Familie handelte. Das gehörte mit zu dem
zeitweise unbegreiflichen
Verhalten der Männerwelt. Hörte man Papa im Schoße seiner Familie, so würde
man glauben, daß Sittsamkeit und Feingefühl die beiden Tugenden waren, die er
bei einer Dame für unentbehrlich hielt. Doch in Papas Lebenswandel war nichts
gewesen, was darauf hindeutete. In Wirklichkeit verhielt es sich gerade
umgekehrt! Aber auch Dysart, welcher die großzügig zur Schau gestellten Reize
einer gewissen Schauspielerin eben noch enthusiastisch begrüßt hatte, konnte
fast im selben Atem die Toilette seiner Schwester streng kritisieren, wenn sie
etwas tiefer als üblich dekolletiert war oder für seinen urplötzlich puritanischen
Geschmack ihre Formen zu eng umschloß. Selbst Cardross litt an dieser
Eigentümlichkeit. Er hatte ihre Toiletten zwar nie kritisiert, doch er machte
aus der Tatsache kein Geheimnis, daß er von seiner Frau und seiner Schwester
einen Grad der äußersten Korrektheit erwartete, welchen er selbst nicht in die
Tat umsetzte. «Ich wünsche nicht, daß es über mein Haus Klatsch gibt», hatte
Cardross unbeugsam gesagt, genauso als hätte er nicht jahrelang in Lord Orsetts
Haus Anlaß zum Klatsch gegeben. Nell zweifelte nicht, daß er es aufs äußerste
mißbilligen würde, wenn seine Frau einen Geldverleiher aufsuchte, doch darüber
machte sie sich keine allzu großen Gedanken. Es mochte vielleicht unklug sein,
doch etwas, was Mama getan hatte, war bestimmt kein Verbrechen.
Nell gab
Dysart noch einen Tag Gnadenfrist, als er jedoch weder erschien noch schrieb,
um ihr mitzuteilen, was er als nächstes zu tun beabsichtige, machte sie sich,
nicht ohne inneres Zittern und Zagen, auf den Weg, um einen Mr. King in der
Clarges Street aufzusuchen. Es war auch derselbe Mr. King gewesen, welcher sich
Mamas Kundschaft erfreuen durfte.
Es
bestanden gewisse Schwierigkeiten, sich allein und zu Fuß vom Grosvenor Square
wegzubegeben, sie wurde ihrer jedoch Herr, indem sie ihren Wagen befahl und
sich zum Green Park fahren ließ, in dem sie – wie sie behauptete – mit
Freundinnen prominieren wolle. Im letzten Augenblick vernichtete Letty beinahe
ihren sorgfältig ausgeklügelten Plan, indem sie erklärte, sich ihr anschließen
zu wollen. Nell hatte aber den glücklichen Einfall, ihr zu sagen, sie habe sich
mit zwei Damen im Park verabredet, die Letty aufs tiefste verabscheute. Sie
beschloß daher statt dessen, in Begleitung ihrer Kammerfrau verschiedene
Einkäufe zu machen. Nell konnte sich wohl einreden, in ihrem geplanten Vorhaben
sei nichts Böses, sie vermochte sich aber nicht davon zu überzeugen, daß es
korrekt wäre, Letty ins Vertrauen zu ziehen. Wenn es ihr selbst vielleicht auch
erlaubt sein mochte, bei Mr. King einen Ausweg aus ihren Schwierigkeiten zu
suchen, wäre es bei Letty, wenn sie dasselbe täte, unbedingt zu verdammen. Sie
vermochte den Gedanken aber nicht loszuwerden, daß es genau das wäre, was Letty
ihr nachmachen würde, wenn sich diese Idee einmal in ihrem Kopf festgesetzt
hatte. Denn bedauerlicherweise war sie nie schuldenfrei. Erst vor kurzem hatte
Car dross sie nachdrücklichst darauf aufmerksam gemacht, daß er ihre verschwenderischen
Gewohnheiten nicht dadurch unterstützen werde, daß er alle ihre unnützen
Ausgaben bezahle.
Nell
kleidete sich für ihre Expedition mit besonderer Sorgfalt an. Sie wählte aus
der reichen Fülle ihrer Trotteurkleider eine einfache, am Hals hochgeschlossene
Toilette mit langen Ärmeln, deren einziger Aufputz aus einer Posamenterieborte
bestand, um die Strenge etwas zu mildern. Aus einem Grund, den sie selbst nicht
zu erklären vermocht hätte, glaubte sie, man müsse, wenn man einen
Geldverleiher aufsucht, so bescheiden wie nur möglich gekleidet sein. Sie
fügte ihrem Ensemble daher noch einen
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