Georgette Heyer
dunkelblauen Sarsenett hinzu. Dies verlieh
ihr unleugbar eine ungemein würdevolle Note. Als sie aber vor der Wahl eines
Hutes stand, ergab es sich, daß der einzige, der die gewünschte würdige Note
annähernd traf, aus olivenbrauner Seide war. Keine Macht der Welt konnte sie
aber dazu bewegen, ihn zu einer dunkelblauen Umhülle aufzusetzen. Sie sah sich
daher gezwungen, statt dessen ein recht mondänes Hütchen zu wählen, das wohl
zum Umhang paßte, jedoch reich mit Blumen und Spitzen garniert war. Ein
dichter Schleier diente dem doppelten Zweck, sich dahinter zu verbergen und
ihr den Anstrich altmodischer Ehrbarkeit zu verleihen. Das alles verblüffte
ihre Kammerfrau und machte sie argwöhnisch. Doch Nell sagte
geistesgegenwärtig, der Straßenstaub habe ihren zarten Teint angegriffen, eine
Erklärung, welche Miss Sutton zu befriedigen schien.
Am Bath
Gate abgesetzt, betrat Nell den Green Park und schlenderte kurze Zeit um das
Bassin herum, in dem Versuch, ihren schwindenden Mut zu stärken. Zwei
unwillkommene Gedanken hatten sich ihrer bemächtigt: Mama hatte sich, wenn sie
sich in ihrer Verzweiflung an Mr. King wandte, stets eines Vermittlers bedient;
und würde Mr. King nicht ihre Identität in Erfahrung bringen wollen? Diese
Möglichkeit hatte sie vorher nie in Betracht gezogen, doch als sie sich während
ihrer Fahrt vom Grosvenor Square alles ins Gedächtnis rief, was sie bei der
bevorstehenden Unterredung sagen wollte, wurde ihr klar, daß nicht einmal der
zuvorkommendste Geldverleiher einer unbekannten dichtverschleierten Dame eine
so große Summe vorstrecken würde. Er würde nicht nur die finanziellen
Verhältnisse seiner Klientin in Erfahrung bringen wollen, sondern zweifellos
auch eine Unterschrift von ihr verlangen. Man könnte natürlich mit einem
falschen Namen unterschreiben, aber das würde voraussichtlich Mr. King kaum
genügen. Nell war klug genug, um zu wissen, daß eine obskure Mrs. Smith ohne
Rang und Titel es weit schwerer finden würde, Geld auf Zinsen zu leihen, als
die Gemahlin eines steinreichen Pairs.
Ziemlich
niedergeschlagen verließ sie den Park und überquerte mit zögernden Schritten
die Fahrbahn und das Kopfsteinpflaster von Piccadilly. Ihr Vorhaben schien ihr
nicht mehr so harmlos zu sein. Während es eine
einfache Sache wäre, unter dem Mantel der Anonymität eine Anleihe zu machen, was
einen bestimmt nicht in Verlegenheit brächte, sah die Sache völlig anders aus,
wenn man sich gezwungen sah, anzugeben: «Ich bin Lady Cardross.»
Sie bog
jetzt in die Clarges Street ein und stand kurz darauf vor einem verschwiegen
aussehenden Haus, in welchem Mr. King seine Geschäfte betrieb. Sie zögerte
einzutreten, und als sie bemerkte, daß sie ein Mann auf der gegenüberliegenden
Straßenseite beobachtete, eilte sie wie gehetzt daran vorbei, während sie
unter ihrem Schleier heftig errötete. Als sie sich umzudrehen wagte, war er aus
ihrem Gesichtskreis verschwunden. Sie kehrte daher um und ging wieder zurück.
Jetzt wünschte sie sich bereits hunderte Meilen weit weg, es graute ihr vor
ihrem Vorhaben, denn sie vermochte sich nicht länger auf die beruhigende
Überlegung zu stützen, daß es schließlich nicht so arg sei. Eine schwache, aber
beharrliche Stimme sagte ihr, daß ihre Mama nicht wünschen würde, ihr bei
dieser Gelegenheit als Vorbild zu dienen. Und sie schritt neuerlich an Mr.
Kings Haus vorbei.
Mr.
Hethersett hatte bereits einige Minuten aus dem Fenster eines Hauses auf der
gegenüberliegenden Straßenseite diese unschlüssige Dame durch sein Monokel
beobachtet. Der Freund, welchen er hier besuchte, hatte schon mehrere
Bemerkungen gemacht, ohne etwas anderes als ein zerstreutes Knurren zur Antwort
zu bekommen. Schließlich fragte er, ob denn etwas nicht in Ordnung sei, und
trat an seine Seite, um zu sehen, was seine Aufmerksamkeit derart in Anspruch
nahm. Mr. Hethersett ließ das Monokel, das an einem Seidenband befestigt war,
sinken, stieß «Du guter Gott!» hervor und ergriff eiligst Hut und Handschuhe.
«Kann nicht bleiben!» sagte er. «Erinnerte mich an etwas Wichtiges!»
Sein höchst
erstaunter Freund erhob dagegen Einspruch, doch Mr. Hethersett, im allgemeinen
von vollendeter Höflichkeit, ließ sich nicht zurückhalten und hörte ihm nicht
weiter zu. In wenigen Sekunden hatte er das Haus verlassen und die Straße mit
langen Schritten überquert.
Nell hatte
soeben, nach einem entschlossenen Atemzug, die erste Stufe zu Mr. Kings Haus
betreten, als sie hörte,
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