Georgette Heyer
Stehspiegel
übten. Dysart war eine ebenso bekannte Erscheinung in diesem Salon wie seine
letzte chère amie. Nell hatte ihn zweifellos mit diesem Tugendspiegel in
seinem Wagen fahren gesehen – eine aufsehenerregende Erscheinung reinsten
Wassers, wie Cardross meinte –, was sie aber darüber dachte, konnte man nicht
sagen. Da sie keine Fragen stellte, würde sie es wahrscheinlich erraten haben.
Doch sie erriet nicht, daß sich Dysart häufig mit diesen Theaterhabitués auf
Ausflüge begab. Sie begannen den Abend mit einem Rumpsteak und einem Dutzend
Gläsern Claret bei Long, um hernach einer wenig respektablen Welt zuzustreben,
die Nell völlig unbekannt sein mußte. Es belustigte diese zügellosen jungen
Leute, sich unter die gefährlichsten Elemente der menschlichen Gesellschaft zu
mischen.
Mit fest
zugeknöpften Röcken stürzten sie sich in die Slums von Tothill Fields und
kamen in engsten Kontakt mit allerlei sonderbaren Menschen, angefangen von
ehrlichen Kohlenträgern bis zu Themsefischern. Sie sahen in Charles'
stinkendem, schmutzstarrendem Lokal Dachshund-hetzen, wo ein Mann schon ein
Blitzkerl sein mußte, um von den Taschendieben nicht ausgeraubt zu werden; sie
standen in den Branntweinschenken Schulter an Schulter mit Trunkenbolden und
deren Geliebten und wanderten hierauf, betrunken und halbbetäubt von dem
schlechten Gin, weiter nach Osten, um immer tiefer in die düstere Unterwelt
einzudringen. Die Nachtwächter wiesen ihnen mit ihrer Nachtmusik – den Klappern
– den Weg durch die schlafende Stadt. Oft wurde irgendein dösender Charlie von
seinem Kutschbock heruntergeworfen und in die Gosse gestürzt; zahlreiche
ehrbare Hausväter wurden durch falschen Feuer- oder Diebsalarm vor ihre
Haustüren gelockt. Manches mal endeten diese Ausschreitungen in einem Wachthaus
und fanden ihre Fortsetzung in der Bow Street mit der Angabe eines falschen Namens
und einer Geldstrafe; manchesmal hatte einer der jungen Leute das Glück,
zu den Lieblingen von Mutter Butler zu zählen; dann fand er zum
Abschluß bei ihr ein Refugium und verbrachte den Rest der Nacht schnarchend
neben den verglimmenden Holzscheiten des Schankzimmers.
Nein, Nell
wußte nichts von diesen Heldentaten, und keine Eifersuchtsregung
ihres Gatten konnte ihn dazu veranlassen, sie darüber aufzuklären. Es wäre ein
zu schwerer Schock, und ihre Liebe zu Dysart, ebenso wie ihre
Unschuld, würden sie dazu verleiten, seinen Exzessen weit mehr Bedeutung
beizulegen als ihr Gatte. Sie ärgerten ihn wohl, und er betrachtete ihre
ununterbrochene Fortdauer mit bösen Vorahnungen. Dennoch glaubte er, daß sie
eher der Langeweile entsprangen als einer angeborenen Verderbtheit. Was ihn
weit mehr beunruhigte, war der Verdacht, daß sich Dysart in seinem rastlosen
Suchen nach etwas Neuem, Erregendem in letzter Zeit im Beggar Club als
Mitglied hatte aufnehmen lassen.
Diese
entschieden widerwärtige Institution hatte ihre Lokalitäten in einem Keller an
der Ecke der Broad Street und wurde gewöhnlich vom Earl of Barrymore
präsidiert, Vizepräsident war Colonel George Hanger. Er wurde von allen
Taugenichtsen Londons frequentiert und von Persönlichkeiten, die es amüsant
fanden, ihr Souper aus den Aushöhlungen herauszufischen, die man in den langen
Tisch geschnitzt hatte, an dem, neben jedem Platz, Messer und Gabeln angekettet
waren. Darin war nichts besonders Böses zu finden, doch das Böse, das einem
jungen Menschen erwachsen konnte, der sich in Barrymores Gesellschaft begab,
war, wie Cardross wußte, gewichtig genug, um selbst einen so gleichgültigen
Vater wie Lord Pevensey zu alarmieren. Der alte George Hanger übte trotz
seiner Exzentrizitäten wenig Einfluß auf die jungen Leute. Er war jetzt über
sechzig. Seine etwas bunte Karriere begann in Eton, führte zu einer
Offiziersstelle im Ersten Garderegiment zu Fuß und erreichte ihren Höhepunkt im
Gefängnis von King's Bench. Nach einem Ausflug auf die Gebiete des Handels – er
hatte sich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis als Kohlenhändler
etabliert – war es ihm gelungen, seine volle Pension ausgezahlt zu bekommen,
und er führte jetzt ein doch etwas gemäßigteres Leben. Durch sein Alter und
seine Exzentrizitäten erreichte er es, in der Gesellschaft geduldet zu werden,
er hatte aber zu ungeschliffene Manieren, um als attraktive Gestalt gelten zu
können. Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß gesagt werden, daß er
weder den Wunsch hatte, als Führer einer Clique zu
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