Georgette Heyer
ebenso sinnlose wie
unwillkommene Erinnerungsbilder vor ihrem geistigen Auge auf: sie sah sich
selbst, wie sie das Halsband aus dem Versteck hervorholte, um es Dysart zu
zeigen – oh, das war vor vielen Monaten gewesen. Dann sah sie Dysart, der hier
an diesem Schreibtisch saß und ihr schrieb, er habe weder die Saphire genommen
noch etwas anderes, in das sie vernarrt sei; und hierauf Cardross' Gesicht,
als er so unfreundlich über Dysart gesprochen und dann urplötzlich verstummte.
Sie stöhnte leise und bedeckte ihre Augen mit der Hand. Dysart wußte, daß sie
das Cardross-Halsband nicht besonders mochte, wie konnte er aber annehmen, es
gehöre ihr und sie könne damit machen, was ihr beliebe? Oder kümmerte er sich
nicht darum?
Es war
sinnlos, sich diese Fragen zu stellen: denn sie konnte ja doch keine Antworten
erhalten, bevor Dysart sie ihr nicht selbst gab. Damit erhob sich sogleich eine
andere Frage, und eine weit vordringlichere: Wo befand sich Dysart? Zuerst
erschien es ihr unbegreiflich, daß er London verlassen haben sollte; doch
plötzlich fiel ihr ein, daß es sehr gefährlich wäre, das Halsband einem
Londoner Juwelier oder Pfandleiher zu verkaufen. Sie wußte zwar sehr wenig
Bescheid über derartige Dinge, glaubte aber doch, daß es ein ziemlich berühmtes
Schmuckstück war; man konnte es auch ganz bestimmt nicht verkennen, wenn man es
einmal gesehen hatte. Es war vor unendlich langer Zeit, während der Regierung
der Königin Elisabeth, als Hochzeitsgeschenk des Cardross jener Epoche für
seine Braut angefertigt worden und auf mehr als einem Familienporträt zu
sehen. Außerdem war es ein ganz außergewöhnliches Kunstwerk, denn die kostbaren
Steine befanden sich in einer Fassung aus goldenen Blumen und Blättern und jede
einzelne Blüte zitterte am Ende einer winzigen Goldspirale. Nell hatte das
Halsband nur ein einziges Mal bei einem Empfang bei Hof getragen. Es hatte
ungeheure Bewunderung erregt und ebensoviel Neugierde – denn niemand vermochte
sich zu erklären, womit die Juwelentrauben befestigt waren. Sie befanden sich
einen halben Zoll von Nells Dekolleté entfernt und zitterten leise bei jeder
ihrer Bewegungen. Es war ihr dennoch nicht verborgen geblieben, daß das Halsband
zu ihrer zarten Erscheinung nicht paßte; es hatte zu viele Juwelenblüten, und
der Fassung aus gehämmertem Gold entsprangen zu viele Blätter aus blitzenden
Smaragden. Sie hatte Cardross einmal gesagt, er solle es einem Museum als
Leihgabe zur Verfügung stellen. Obwohl er zugab, daß der richtige Platz für
das Halsband eine Glasvitrine sei, wünschte er dennoch, daß sie es bei
offiziellen Anlässen trage. Daher war es auch nie dazugekommen, es einem
Museum zu überlassen. Wenn es auch nie in der Öffentlichkeit gezeigt worden
war, vermutete Nell doch, daß es genügend bekannt sein müsse, um Dysart zu
veranlassen, einen Käufer in der Provinz zu suchen. Sie fragte sich
verzweifelt, wie sie seiner Ansicht nach den Verlust verbergen könnte, ob er
einen Künstler gefunden hatte, der geschickt genug war, das Halsband zu
kopieren, oder ob er es – und das war das Günstigste, was sie erhoffen konnte –
nicht verkauft, sondern bloß verpfändet hatte.
Doch nun
erinnerte sie sich wieder an Sutton, die im angrenzenden Zimmer taktvoll
hüstelte. Es wurde spät, und man war verpflichtet, sich für das Dinner
umzukleiden, auch wenn man sich am Rande eines tiefen Abgrunds befand. Sie
erhob sich, jetzt schon etwas sicherer auf den Beinen, doch mit so blassem
Antlitz und einem so gespannten Ausdruck der Augen, daß Sutton bei ihrem
Eintritt in das Schlafzimmer fragte, ob sie krank sei. Sie betrachtete ihr
Ebenbild im Spiegel und erschrak, wie verstört sie aussah. Sie zwang sich zu
einem Lächeln und sagte: «Nein, nicht krank, aber ich hatte den ganzen Tag
unerträgliche Kopfschmerzen. Sie müssen mir etwas Rouge auflegen.»
«Wenn ich
mir etwas zu bemerken erlauben darf, Mylady, sähe ich es lieber, wenn sich
Mylady zu Bett legten. Niemand als ich weiß besser, was es heißt, an Migräne zu
leiden.»
Nell
schüttelte den Kopf, willigte aber ein, einige Tropfen Laudanum mit etwas
Wasser zu nehmen. Wenn sie auch an keiner Migräne litt, so hatte sie noch nie
so dringend eines Beruhigungsmittels bedurft.
An ihre
Toilette war soeben letzte Hand gelegt worden, als Cardross um Einlaß in ihr
Zimmer bat. Der Gedanke, Sutton könnte ihm gegenüber das Verschwinden des
Halsbands erwähnen, schoß Nell plötzlich durch den Kopf
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