Geraeuschkiller - Mutige Liebe
einem
Mal fiel ihr in einem der Regale etwas auf, das sie bisher nicht bemerkt hatte.
Es war in dunkelblauen Samt gehüllt. Den Umrissen nach hätte es eine Kugel sein
können, groß wie ein Fußball. Es stand in Augenhöhe auf dem Regal, halb
verborgen von den Smaraggs.
Clara
zögerte einen Augenblick, dann tappte sie auf Zehenspitzen zu dem Regal und
schob entschlossen die Smaraggs auseinander. In ihrer Aufregung bemerkte sie
nicht, dass sie eiskalt waren.
Sie zog an
dem blauen Samt und ein sonderbares Gebilde kam zum Vorschein, eine gläserne
Schnecke, gefüllt mit einer durchsichtigen Flüssigkeit, in der klitzekleine
silbrige Schuppen schwammen. Feine, transparente Härchen wuchsen an den
spiraligen Innenwänden. Irgendwie erinnerte sie das Gebilde an das Modell der
Hörschnecke im menschlichen Innenohr, das sie im Anatomie-Museum mit großem
Interesse untersucht hatte. Clara konnte nicht anders, sie musste das
Wunderding anfassen.
Sie zuckte
zurück. Es fühlte sich an wie feine Haut, etwas wärmer als ihre Hand. Es hatte
Körpertemperatur!
Sie zögerte,
doch ihre Neugier war stärker. Vorsichtig nahm sie es aus dem Regal. Da geriet
die Flüssigkeit in Bewegung, die Härchen schwangen hin und her und die winzigen
Silberschuppen wirbelten auf. Als sie sich beruhigt hatten, entdeckte Clara im
Zentrum der Schnecke eine menschliche Gestalt.
Ein Kind!
Es mochte
vier Jahre alt sein. Es war nackt, es hatte die Augen geschlossen, doch es
schlief nicht.
Beinahe hätte sie das wunderliche Gebilde fallen gelassen
vor Schreck.
Das Kind da
drinnen war lebendig! Ganz deutlich sah sie es: Es atmete!
Wie seltsam
sein Gesicht aussieht, dachte Clara. Sie hätte nicht sagen können, ob es die
Gesichtszüge eines Mädchens oder eines Jungen, eines Mannes oder einer Frau,
oder das Gesicht eines Greises hatte. Es war jung und alt zugleich.
Irgendwie
kam es ihr fremd und doch geheimnisvoll vertraut vor.
Sie stupste
die Schnecke sanft an, und das Kind verschwamm in den silbrigen Schuppen. Als
sie wieder zum Stillstand kamen, war es wieder da.
Doch wie
sah es plötzlich aus! Ein gläserner Reifen schürte seinen Hals ein. Seine
Lippen waren wie zugeschweißt. Schwarze Tränen aus Stein umklammerten sein
Herz. Clara spürte den Drang die Schnecke sofort wieder zurück zu stellen. Und
doch zog sie sie magisch an.
Sie führte
die Schnecke näher an ihre Augen und vergaß alles um sich her. Ein Panzer aus
Eisplatten umschloss die Brust des Kindes! Und mit einem Mal drang etwas wie
eine durchsichtige Glasur aus allen seinen Poren. Das ist Eis!, dachte sie.
Eine Haut aus Eis überzog das Kind! Träumte sie? Seine Brust hob und senkte
sich zaghaft, als hätte es Angst frei zu atmen. Und es umklammerte sich selbst
mit seinen dünnen Armen, als müsste es sich selber schützen und halten, weil
niemand anderer es hielt.
Clara
fühlte eine Welle von Mitleid in sich aufsteigen. Sie wollte dem Kind helfen.
Aber wie? Sie stupste die Schnecke wieder an, damit die silbrigen Schuppen das
Bild verwischten.
Rötliche
Reflexe flirrten durch die Flüssigkeit, als würde im Innern der Schnecke ein
Feuer flackern. Die feinen Härchen glühten funkengleich. Und aus dem
Feuerschein tauchte wieder das Kind auf.
Eine
Frau nahm es liebevoll in ihre Arme, ein Mann umfing die beiden zärtlich und
legte beschützend seine Hand auf die Brust des Kindes, dort wo das Herz sitzt. Und
mit einem Mal bewegte das Kind die Lippen, formte Worte. Clara konnte nicht
hören, was es sagte, doch die Frau neigte sich zu ihm und lauschte ihm.
Und die
steinernen Tränen um das Herz des Kindes zerrannen, die Eishaut auf seinem
Körper schmolz und lief in Rinnsalen an ihm herab. Der Panzer aus Eis zerfloss,
und Wellen aus goldenem Licht zirkulierten in der Brust des Kindes. Der
gläserne Reifen um seinen Hals zerfiel zu Silberstaub und das rote Mal, das er
um den schmalen Hals zurück ließ, verblasste.
Das Gesicht
des Kindes erstrahlte wie ein duftender Sommertag. So wunderschön war es, dass
es Clara bis ins Herz ergriff. Jetzt schlug das Kind die Lider auf, und in
seinen Augen glitzerte es wie das Meer unter der Sonne, und sein Körper
vibrierte vor Kraft.
Du bist aus
Gold, lass es von niemandem beschmutzen, sagten seine Augen.
Verzaubert
blickte Clara in die Hörschnecke, ganz leicht und zuversichtlich wurde ihr
zumute. Am liebsten hätte sie getanzt.
Da hörte
sie Schritte im Flur. Panik schoss in ihr hoch. Der Fremde!
Sie horchte
angespannt.
Nein,
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