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Gérards Heirat

Titel: Gérards Heirat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Theuriet
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vorzüglich. Marius, durch die gute Mahlzeit und die Anwesenheit eines Fremden aufgeheitert, begann seine überspanntesten Theorien zu entwickeln Helene lachte hellauf; der stille Herr Laheyrard begnügte sich damit, von Zeit zu Zeit, wenn die Übertreibungen des jungen Dichters alles Maß überschritten, achselzuckend zu sagen: »Marius, mein Sohn, du setzest mich Unannehmlichkeiten aus,« was dann unfehlbar einen noch furchtbarerenAusbruch von Umsturzideen hervorrief, um den Alten zu foppen.
    In dieser fröhlichen Umgebung, das blendende Lächeln und den geistvollen Blick Helenens vor Augen, taute auch Gérard langsam auf. Er kam sich vor wie ein Theeblatt, das ganz zusammengeschrumpft in die Theekanne geworfen wird und sich dann unter dem Einfluß des warmen Wassers erholt, entfaltet und seinen Wohlgeruch ausströmt. Als der Kaffee herumgereicht wurde, war er schon ein anderer Mensch. Er war gesprächig und mitteilsam geworden. Er erzählte von seiner einsamen Kindheit in dem alten Hause, von seiner im Jesuitenkloster in Metz verlebten Jugend, von seinen juristischen Studien, die er unter der Obhut der uralten Witwe in Nancy gemacht hatte ... Helene fing an zu lachen. »Aber Sie haben ja einen ganz barbarischen Vater! Wie sehr muß ich ihm neulich im Pfarrhaus mißfallen haben! ... Ach! da ist unser Papa, unser lieber einziger Papa, doch ganz anders, der wäre nicht so hart!« rief sie und streichelte Herrn Laheyrard.
    »Ja,« brummte der alte Professor, »mich führt man an der Nase herum.«
    »Und zwar so arg,« fuhr das schelmische Mädchen fort und nahm die Nase ihres Vaters zwischen ihre schlanken Finger, »so arg, daß die Nase ganz lang geworden ist; aber man hat den Vater sehr lieb!« setzte sie hinzu und drückte ihre seidenweiche Wange an den langen Bart des Professors. Eine plötzliche Anwandlung von Zärtlichkeit überkam sie; Vater und Tochter umarmten sich innig, während Gérard ergriffen die schöne Gruppe bewunderte, welche der Greis in grauem Haar mit seinem Kinde in goldenen Locken bildete. Helene hatte, auf den Zehen stehend, ihren Arm fest um des Vaters Nacken geschlungen und schien ihn nicht mehr freigeben zu wollen.
    Nachdem Herr Laheyrard sich endlich losgemacht hatte, zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück. Frau Laheyrardbrachte die Kinder zu Bette und Marius rauchte im Garten; Helene und Gérard blieben allein unter einem großen Maulbeerbaum, der sie mit seinen purpurnen Beeren überstreute. Die Dämmerung war hereingebrochen, die Grillen zirpten, die Nachtfalter summten über dem blühenden Phloxe. Helene näherte sich einem Fliederstrauch, und es gelang ihr, einen der um die Blüten herumflatternden Schmetterlinge in der Hand zu fangen. Sie kam zu Gérard zurück, öffnete die Finger halb, um ihm das Insekt zu zeigen, das heftig mit seinen rot und grauen Flügeln schlug. »Ist er nicht eigentümlich,« fragte sie, »mit seinem spitzen Kopf und den großen Augen, die wie schwarze Diamanten glänzen?«
    Gérard hatte, um den Schmetterling besser sehen zu können, Helenens Hand erfaßt und hielt sie fast in gleicher Linie mit seinen Lippen fest, Fräulein Laheyrard fühlte den Atem des jungen Mannes an ihren Fingern.
    »Welch hübsche Farbe haben seine Flügel,« flüsterte er.
    »Ich möchte ein Kleid in dieser rosaroten Farbe!« rief Helene, »ich habe Lust, ihn unter einem Glas gefangen zu halten, daß ich ihn morgen malen kann!«
    »Nein,« sagte Gérard, »seien Sie großmütig ... Er hat so lange eingekerkert gelebt in seiner trübseligen Puppe!«
    »Wie Sie,« sagte sie unbesonnen.
    »Ja, wie ich,« entgegnete er lustig.
    »Diese Nacht ist vielleicht sein einziges Fest, rauben Sie es ihm nicht!«
    »Wohlgesprochen,« sagte Helene, »fliege weiter Landstreicher, in die Freiheit und genieße sie fröhlich.«
    Sie öffnete die Hand und der Nachtschmetterling entfloh surrend. Gérard blieb sinnend. Vielleicht dachte er daran, daß hier der Vergleich zwischen ihm und dem Schmetterling schon zu Ende sei; während dieser freien Fluges zu dem vom Nachttau befeuchteten Phloxe zurückkehrte, blieb sein Herz als Geisel zwischen den kleinen Händen Helenens zurück. Als er in seines Vaters Haus zurückkehrte, schien es ihm,als habe sich mit seinem ganzen Wesen eine Umwälzung vollzogen; in ihm graute eine halbe Dämmerung, ähnlich jener matten Helle, die sich über den Wäldern verbreitet, ehe der Mond aufgeht.

Sechstes Kapitel.
    Seit jenem Abend kam Gérard öfter zu Marius. Vermittelst

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