Geraubte Erinnerung
erkannte.
»Ist das der Projektor?«, fragte Rachel.
»Irgendjemand spult den Film zurück, ja«, sagte ich. »Offensichtlich wird der Bahnhof wieder geöffnet. Wir sollten gehen.«
»Vielleicht sollten wir lieber bis Mitternacht warten?«
»Nein. Heute Nacht werden überall Posten stehen. Im Augenblick können wir auf eine Menge Konfusion und Hektik zählen, während sie den Bahnhof öffnen. Das ist unsere beste Chance.«
Wir erhoben uns und schlichen an der Wand entlang zum Ausgang. Nachdem wir eine Weile dort gewartet und gelauscht und nichts gehört hatten, öffnete ich die Tür einen Spalt weit und spähte nach draußen. Zwei Frauen in normaler Straßenkleidung kamen vorbei. Ich dachte zuerst, es wären Cops in Zivil, doch dann kam eine weitere Lautsprecherdurchsage, die eine Fahrplanänderung verkündete. In einem immer noch geräumten und von der Polizei abgeriegelten Bahnhof hätte es diese Durchsage nicht gegeben. Ich zog Rachel mit mir nach draußen.
Die Rolltreppen und Aufgänge füllten sich mit Menschen. Aus der Küche des Restaurants ertönte hektisches Töpfeklappern. Wir gingen zur Rolltreppe und fuhren nach oben.
»Sobald wir oben angekommen sind, gehst du zwanzig Meterhinter mir«, sagte ich. »Falls mich jemand erkennt, mischst du dich unter die Leute und verschwindest.«
Die Rolltreppe endete in der Nähe des Eingangs des Buchgeschäfts. Ich küsste Rachel auf die Wange; dann marschierte ich los, während ich die Menge unablässig nach Uniformierten absuchte.
Wütende Reisende strömten in den Bahnhof wie Wasser durch einen gebrochenen Damm. Die meisten eilten zu den Bahnsteigen. Eine bessere Deckung hätte ich nicht finden können. Ich warf einen Blick nach hinten, um mich zu überzeugen, dass Rachel mir folgte; dann wollte ich nach rechts abbiegen in Richtung des Haupteingangs. Falls die Polizei die Menschen durch einen Kontrollpunkt schleuste, wollte ich kehrtmachen und nach einem alternativen Ausgang suchen. Falls nicht, würde ich nach draußen gehen und darauf vertrauen, dass wir in der anonymen Masse aufgingen, ohne dass man uns bemerkte.
Ich bog nach rechts und marschierte in die tunnelartige Kaverne, die zum Haupteingang führte. Es war nicht einfach, sich dem Menschenstrom entgegenzustemmen, der gegen mich anbrandete, doch ich war froh über jeden einzelnen. Indem die Polizei den Bahnhof drei Stunden lang abgeriegelt hatte, war eine Situation entstanden, die sie kaum noch unter Kontrolle halten konnte.
Zwischen mir und dem Ausgang befand sich das runde Restaurant, das wir bereits beim Betreten des Bahnhofs gesehen hatten. Zwei Etagen hoch ragte es auf wie eine Insel aus dem Meer. Auf dem Dach befand sich ein Open Air Café mit Tischen und Stühlen und einem schmiedeeisernen Geländer, durch das die Gäste den Betrieb unten in der Halle beobachten konnten. Oder jemand, der die riesige Halle überwachte. Ich wollte es mit gesenktem Gesicht auf der linken Seite umrunden, als jemand meinen Namen rief.
»Dr. Tennant!« Eine Frauenstimme.
Geli Bauer stand oben am Geländer des Cafés und starrte zu mir herab. Ihr vernarbtes Gesicht und die leuchtenden blauen Augen waren unmöglich zu übersehen, und ihre Anwesenheit warwohl so etwas wie die Unausweichlichkeit des Schicksals. Drei Stunden lang hatten wir uns unten im Kino versteckt und ihr genügend Zeit verschafft, um persönlich von North Carolina herzufliegen. Die Polizei hatte den Bahnhof wieder für den Publikumsverkehr geöffnet, doch Geli hatte hartnäckig gewartet in der Hoffnung, uns doch noch zu finden. Noch während ich zu Rachel herumwirbelte, um zu sehen, ob sie die Gefahr bemerkt hatte, wurde mir mein Fehler bewusst. Geli entdeckte Rachel und hob ein Walkie-Talkie an die Lippen.
»Lauf!«, rief ich Rachel zu.
Geli ließ das Funkgerät fallen, riss eine automatische Pistole hoch und zielte damit auf mich.
Eine Frau neben ihr schrie auf. Andere fielen ein. Panik entstand. Geli rannte zu einer Wendeltreppe, die nach unten auf die Hauptebene führte. Ich schob die Hand unter das Hemd im Rücken, wo mein Revolver im Hosenbund steckte.
»Nicht!« , rief Geli Bauer und rannte die Treppe hinunter. »Ich werde nicht schießen! Der Schießbefehl kam von Godin! Godin hat den Verstand verloren!«
Sie blieb auf halbem Weg nach unten stehen, die Pistole in beiden Händen auf mich gerichtet.
»Wenn das stimmt, dann stecken Sie die Waffe weg!«
Sie tat es nicht.
Warum hat sie mich nicht erschossen?, überlegte ich. Dann
Weitere Kostenlose Bücher