Geraubte Erinnerung

abzuschätzen, die dem zählebigen alten Mann noch blieb. Es war nicht einfach. Ravi hatte seit Jahren nicht mehr direkt mit Patienten gearbeitet, und Godin war längst über die gewöhnlichen Sterblichkeitsdaten für Patienten hinaus, die an einem solchen Tumor erkrankt waren wie er. Unter diesen Umständen die verbleibende Lebensspanne vorherzusagen hätte die Art von Expertise erfordert, in der Ärzte wie Tennant glänzten. Jahrelange klinische Erfahrung verlieh ihnen eine Art sechsten Sinn für Leben und Tod. Andererseits hatte jede hemdsärmelige Krankenpflegerin das gleiche Gespür.
    Ein Summen und das Aufblitzen von ultraviolettem Licht rissen Ravi aus seinen Überlegungen, und er wandte den Kopf. Durch das transparente Material der Blase sah er Zach Levin, der in der Dekontaminationsschleuse stand.
    Levin verbrachte den größten Teil seiner Zeit in dem Betonschoß, in dem der Prototyp von Trinity entstand, doch er schien stets zu spüren, wenn Godin das Bewusstsein wiedererlangte. Levin und seine Ingenieure waren wie eine Priesterschaft, die ihren sterbenden Meister pflegte und hegte und seiner Schöpfung Leben einhauchte. Priester der Wissenschaft, dachte Ravi. Welch ein Widerspruch in sich. Er winkte Levin zu und dachte: Du raubst mir noch den letzten Nerv …
    »Levin ist jetzt da«, sagte er zu Godin und zwang sich zu einem Lächeln.
    »Wie lange werde ich bei Bewusstsein bleiben?«, wollte Godin wissen.
    »Bis die Schmerzen wieder unerträglich werden.«
    »Schicken Sie Levin zu mir rein, wenn Sie nach draußen gehen.«
    Ravi unterdrückte seinen aufkeimenden Ärger. Er war sein Leben lang ein Wunderkind gewesen, doch in den vergangenen sechs Monaten hatte er sich mehr gefühlt wie ein königlicher Leibarzt am Bett seines Herrn. Die Launen eines Tyrannen bestimmten seine Tage. Er trat auf den Knopf, der die Schleuse öffnete, und verließ Godins transparentes Gefängnis.
    Zach Levin nickte ihm vom Dekontaminator her zu. Rein technisch gesehen waren Levin und sein Interfaceteam Ravi Naras Untergebene. Doch die Hard- und Software Trinitys waren dermaßen komplex, dass Ravi keine Chance hatte, Levin und seine Leute in irgendeiner Weise zu führen, mit Ausnahme der wenigen Gelegenheiten, wo das Gehirn selbst betroffen war. Doch selbst dann, wenn sie sich mit neurologischen Fragen an ihn wandten, fühlte Ravi sich mehr benutzt als beachtet. Sie schwammen wie Piranhas durch seinen Verstand und verschlangen, was sie für ihre Exkursionen in die labyrinthartigen Neuromodelle brauchten …
    »Wie geht es ihm?«, fragte Levin laut.
    Die Röhren der Dekontaminationsschleuse summten ein letztes Mal und wurden dunkel.
    »Er ist wach«, antwortete Ravi. »Und bei klarem Bewusstsein.«
    »Gut. Ich habe ein paar aufregende Neuigkeiten für Peter.«
    Aber nicht für mich, dachte Ravi bitter. »Haben Sie Tennants Modell neue Fragen gestellt?«
    Levin schien kurz nachzudenken, bevor er antwortete. »Ich habe Dr. Tennant vor einer Stunde aus dem Speicher des Trinity-Computers gelöscht.«
    »Wer hat Ihnen den Auftrag dazu gegeben?«
    »Was glauben Sie denn?«
    Godin.
    »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es viel wichtiger, Trinity in einen voll funktionierenden Zustand zu bringen, als sich wegen des Schadens zu sorgen, den Dr. Tennant dem Projekt zufügen könnte«, sagte Levin.
    Ravi war der gleichen Ansicht, doch er wollte nicht, dass der Ingenieur das erfuhr. »Inwiefern hilft Ihnen das Löschen von Tennants Modell dabei weiter?«
    »Peter glaubt, dass eine Reihe der Probleme, vor denen wir derzeit stehen, ihre Ursachen in einer Quantenstörung haben könnten. Er dachte, dass Andrew Fielding vielleicht imstande wäre, uns zu helfen.«
    »Fielding? Sie meinen, Sie haben Fieldings Neuromodell in den Prototyp geladen?«
    »Ganz recht.«
    »Und Sie glauben allen Ernstes, dass Fieldings Neuromodell Ihnen bei der Lösung der verbliebenen Probleme helfen kann?«
    »Um die Wahrheit zu sagen, ich wüsste keinen Grund, warum Fieldings Modell sich anders verhalten sollte als das von Tennant. Aber es ist tatsächlich interessant. Dr. Fielding durchlebt die gleichen Akklimatisierungsprozesse wie zuvor Dr. Tennant – Angst, Verwirrung, Rückkopplungen seiner biologischen Überlebensinstinkte, deren Sicherheitsmechanismen nicht korrekt ausbalanciert sind … doch er scheint sich signifikant schneller zu akklimatisieren als Tennant vor ihm.«
    Ravi erschauerte. Levin redete von Fielding, als wäre er noch am Leben. »Und was hat das