Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
Vom Netzwerk:
haben. Stellen wir uns nun vor, ein scharfsichtiger Kritiker entdeckte im Gemälde des Künstlers ein paar Quadratzentimeter, die in der Kopie nicht exakt reproduziert wurden. Der Guru untersucht seine Maschine und prüft die Informationsbasis. Er findet keinen Fehler. Der Künstler hat doch einen freien Willen! Seine Leistung werden wir deshalb aber nicht plötzlich höher bewerten. Vielleicht wäre das Gemälde ja besser geworden, wenn er genau das getan hätte, was die Maschine vorhergesagt hatte.
    In diesem phantastischen Szenario stoßen wir auf dieselbe Konzeption des Leistungswerts eines Kunstwerks, die wir bereits im neunten Kapitel identifiziert haben. Dieser Wert wurzelt in den kreativen Entscheidungen des Künstlers und nicht in irgendeiner abwegigen kausalen Erklärung dieser Entscheidungen. Nun können wir dieselbe Konzeption auf eine umfassendere kreative Laufbahn übertragen, wie wir es dort bereits getan haben: darauf, wie wir unser Leben führen und versuchen, ein gelungenes Leben zu führen. Der Wert, den wir in dieser umfassenderen Laufbahn zu realisieren bestrebt sind, hängt ebenfalls vom Wesen unserer Entscheidungen ab, nicht von deren weit zurückreichender Vorgeschichte. Es ist unerheblich, ob unsere Entscheidungen durch die Geschichte der Welt vorherbestimmt sind oder ihren Ursprung in irgendeinem spontanen Gebräu neuronaler Moleküle haben. Die weit zurückreichende natürliche Ätiologie unserer Entscheidungen ist irrelevant für die Frage des Leistungswerts, der durch diese Entscheidungen geschaffen wird oder nicht.
    Unser im sechsten Kapitel beschriebenes Streben danach, Integrität unter unseren Überzeugungen zu schaffen, ist Teil des sich entfaltenden Dramas selbstbewußten Lebens. Wenn alle unsere Entscheidungen determiniert sind, so auch diese. Das nimmt der Integrität nichts von ihrer Bedeutung für ethi
413 schen Erfolg. Stellt es einen Einwand gegen diesen Gedankengang dar, daß er uns reflexiv verantwortlich macht für unseren Charakter, obwohl wir uns unseren Charakter nicht aussuchen können? Strenggenommen macht uns diese Position für unsere Handlungen und nicht für unseren Charakter verantwortlich. Aber natürlich sind unsere Entscheidungen auch Ausfluß unseres Charakters. Daher ist es richtig, daß wir für unseren Charakter verantwortlich sind. Wenn das nicht so wäre – wenn wir den Charakter als Glück oder Pech behandeln würden, das einem einfach zustößt –, dann gäbe es keine Person mehr, um deren Glück oder Pech es sich dabei handeln könnte. Ich kann mich für meine Trägheit ebensowenig entschuldigen, wie Sie sich für Ihre Ungeduld entschuldigen können, weil keiner von uns beiden sich diese Charaktereigenschaften ausgesucht hat. Aber können wir nicht auch für das verantwortlich sein, was wir uns nicht ausgesucht haben? Ja. Das kausale Kontrollprinzip verneint, daß dies möglich ist, liegt damit aber falsch. Behinderungen und Unfälle sind genau aus dem Grund anders gelagerte Fälle, weil sie nicht den Charakter der Person widerspiegeln. Wie wir im 16. Kapitel sehen werden, ist diese Unterscheidung für Fragen der Verteilungsgerechtigkeit von einiger Bedeutung.
    Eine ethische Rechtfertigung von Ausnahmen
    Dies sind die Annahmen – über Charakter, Entscheidungen und Leistungswert im Leben –, die wir benötigen, um zu erklären, warum wir für unsere Entscheidungen generell reflexiv verantwortlich sind. Nun wenden wir uns einer anderen Frage zu. Warum sind wir nicht für alle unsere Entscheidungen verantwortlich? Was rechtfertigt die Ausnahmen, die von unserem System der Verantwortung anerkannt werden? Ich habe die These vertreten, daß das kausale Kontrollprinzip diese Ausnahmen entgegen dem ersten Anschein nicht zu rechtfertigen ver
414 mag. Wir müssen uns nun fragen, ob das alternative Verständnis von Kontrolle, wie es im Fähigkeitenprinzip zum Ausdruck kommt, eine bessere Rechtfertigung anzubieten hat.
    Wenn ich einen Absatz schreibe oder eine Affäre beende, kann ich nicht leugnen, daß ich meine Handlung in jeder umfassenden Selbstbewertung berücksichtigen muß. Manche Entscheidungen nehmen wir von einer solchen Bewertung aber sehr wohl aus, wenn wir meinen, dafür einen guten Grund zu haben. Wir können dies im Fall anderer Menschen tun, während sie handeln, und in unserem eigenen Fall retrospektiv. Welche Entscheidungen sollten wir davon ausnehmen, wenn überhaupt irgendwelche? Welche Auswahlfilter wären gerechtfertigt? Wir können

Weitere Kostenlose Bücher