Gerechtigkeit fuer Igel
alle handeln manchmal auf für uns untypische Weise. Wenn wir es als Erzählung betrachten, ähnelt das Leben mancher Menschen einem Schelmenroman oder sogar einem großen Durcheinander – ihr Leben entspricht vielleicht Hubbards »ein verdammtes Ding nach dem anderen« oder Millays »immer wieder dieselbe verdammte Sache«.
27 Aber aus genau diesem Grund handelt es sich bei einem solchen Leben nicht um ein gelungenes Leben, ganz egal, wie sehr es von weltlichem Erfolg gekrönt sein mag, wenn es nicht durch eine neuartige, spät im Leben erfolgende integrierende Interpretation oder eine Konversion zu einer neuen Integrität erlöst wird. Unser System der Verantwortung bringt dieses – wie zumindest mir scheint – überzeugende ethische Urteil zum Ausdruck.
In diesem Licht erscheint die erste Fähigkeit als unverzichtbar. Ein Leben zu erschaffen erfordert, daß wir auf die Umwelt reagieren, in der dieses Leben gelebt wird; eine Person kann nur dann sinnvoll als Autorin eines Lebens verstanden werden oder sich selbst retrospektiv so verstehen, wenn sie Meinungen
417 über die Welt zu bilden vermag, die weitgehend auf die Welt antworten, wie sie ist. Menschen, deren Sinne in der einen oder anderen Weise nur eingeschränkt funktionieren oder die eine nur unzulängliche Bildung erfahren haben, können dies vielleicht ausreichend kompensieren, um weitgehend korrekte Meinungen über ihre direkte Umgebung zu bilden. Aber einem geistig Minderbemittelten oder jemandem, der denkt, er sei Napoleon oder Schweine könnten fliegen, fehlt auch diese minimale Fähigkeit. In philosophischen Kreisen wird man manchmal dazu aufgefordert, sich vorzustellen, man sei ein körperloses Gehirn in einem Tank voller Nährlösung, das durch eine übergeordnete Intelligenz umfassend getäuscht wird, so daß es denkt, es sei ein körperlicher zweibeiniger Organismus, der auf dem Planeten Erde lebt. Wenn diese Beschreibung zutreffend wäre, würden die Betroffenen kein Leben führen. Unter der Annahme, daß wir keine Gehirne im Tank sind, haben beinahe alle von uns die epistemische Fähigkeit, die wir zur Bewältigung des Großteils unseres Lebens benötigen. Von Zeit zu Zeit fehlt einigen von uns diese normale Fähigkeit jedoch in der einen oder anderen Hinsicht oder wir verlieren sie, und dann steht unsere reflexive Verantwortung für das, was wir tun, in Frage.
Die zweite Fähigkeit ist regulativ; auch sie scheint wesentlich zu sein. Wenn ich die Herausforderung, ein gelungenes Leben zu führen, annehmen soll, muß ich über die Fähigkeit verfügen, meine Entscheidungen mit meinem Sinn dafür in Einklang zu bringen, was es hieße, ein gelungenes Leben zu führen. Meine Persönlichkeit ist durch Kräfte geformt worden, die in meiner persönlichen Geschichte zusammengefaßt sind; diese haben meine Persönlichkeit geprägt, aber sie schränken nicht meine Fähigkeit ein, meine Entscheidungen in Einklang mit der so geformten Persönlichkeit zu bringen. Diese Fähigkeit wird jedoch dadurch zerstört, daß mir andere meine Entscheidungsfähigkeit nehmen, um eigene Zwecke damit zu verfolgen: etwa wenn ich hypnotisiert werde oder Elektroden in mein Hirn eingesetzt werden. Diese Art von Usurpation ent
418 koppelt meine Entscheidungen von meiner Persönlichkeit, so daß es bestenfalls einen Zufall darstellt, wenn beide in Einklang stehen. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, daß ich in der Beantwortung der Frage, ob ich ein gelungenes Leben habe, unterscheide zwischen dem, was ich getan habe, als ich mich im Besitz der Fähigkeit befand, meine eigenen Wünsche und Überzeugungen in meinen Entscheidungen zum Ausdruck zu bringen, und dem, was ich getan habe, als mir diese Fähigkeit fehlte. Ich übernehme allein für die Entscheidungen der ersten Art die Verantwortung. Manche Menschen befinden sich temporär in einem solchen Zustand, manchmal sogar über lange Abschnitte ihres Lebens, nicht weil andere ihnen die Fähigkeit genommen haben, ihr Verhalten an ihrer eigenen Persönlichkeit auszurichten, sondern weil diese Fähigkeit ihnen selbst fehlt. Ein Neugeborenes trifft überhaupt keine Entscheidungen, wie mir scheint. Ein junges Kind schon, aber es verfügt nicht über die kognitive und kritische Fähigkeit, die dafür nötig ist, die eigenen Entscheidungen mit selbstbewußt erkannten Ambitionen oder Wünschen in Einklang zu bringen. Wer an schweren psychischen Krankheiten leidet, wie ich sie oben beschrieben habe – denken Sie an den Mörder, der
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