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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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bestimmte Entscheidungen nicht einfach deshalb aussieben, weil wir sie bereuen. Das würde die Möglichkeit des gelungenen Lebens selbst auslöschen. Wir haben aber sehr wohl Grund, einen weniger nachsichtigen Filter anzuwenden. In unterschiedlichen Kontexten unterscheiden wir häufig, ob jemand etwas schlecht tut oder gar nicht zu tun in der Lage ist. Eine blinde Person kann nicht schlecht lesen. Wir müssen das System der Verantwortung in diesem Licht betrachten. Das Fähigkeitenprinzip benennt jene Fähigkeiten, über die eine Person unserer Meinung nach verfügen muß, wenn ihr Versuch, ein gelungenes Leben zu führen, sinnvoll als Erfolg oder als Scheitern beurteilt werden soll.
    Bernard Williams hat darauf hingewiesen, daß ein solcher Filtermechanismus auf unterschiedliche Weise konstruiert werden kann; die in der altgriechischen Literatur zum Ausdruck kommende Kombination war seines Erachtens der unseren sehr ähnlich, aber in wichtigen Hinsichten doch von ihr verschieden.
24 Wir behandeln selbst vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit als unvereinbar mit Verantwortlichkeit, aber Sophokles' Ajax hielt sich selbst für verantwortlich für sein idiotisches Abschlachten der Viehherde, obwohl ihn Athene dazu gebracht hatte, indem sie ihm den Verstand raubte.
25 Dem Fähigkeitenprinzip zufolge gilt statt dessen, daß jemand nicht
415 über Kontrolle im relevanten Sinn verfügt, der nicht in ausreichendem Maße fähig ist, wahre und relevante Meinungen über die Welt zu bilden, in der er handelt, oder seine Entscheidungen in Einklang mit seiner normativen Persönlichkeit zu bringen. Dieses Prinzip führt daher zu einem anderen Filtermechanismus. Ob es sich um einen besseren Filter handelt, müssen wir herausfinden, indem wir fragen, ob er eine überzeugendere Konzeption adverbialen ethischen Werts zum Ausdruck bringt.
    Menschen verfügen über diese beiden Fähigkeiten in sehr unterschiedlichem Maße. Fast jeder Naturwissenschaftler ist besser darin, wahre Meinungen über die physikalische Welt zu bilden als ich, und jemand der weniger impulsiv ist, ist besser darin, seine Entscheidungen mit dem, was er tatsächlich für gut hält, in Einklang zu bringen. Das Fähigkeitenprinzip setzt einen Schwellenwert dieser Fähigkeiten voraus, und ein Gutteil des Streits unter Juristen und Laien darüber, wann es angemessen ist, jemanden für sein Verhalten verantwortlich zu machen, dreht sich in Wirklichkeit darum, wo genau dieser Schwellenwert anzusetzen ist. Es gehört zu den Vorzügen des Fähigkeitenprinzips, daß es diese Auseinandersetzungen als in ihrem Kern ethisch und nicht psychologisch erweist. In ihnen geht es um evaluative Mikrourteile, in denen Menschen, die das Fähigkeitenprinzip abstrakt für gültig halten, differieren werden.
    In manchen Fällen ist der Mangel an einer dieser beiden Fähigkeiten jedoch offensichtlich und unleugbar, daher sollten wir uns zunächst diesen Fällen zuwenden. Ein geistig minderbemittelter Mensch ist nicht dazu in der Lage, einen ausreichend großen Bestand an stabilen wahren Meinungen über die Welt zu bilden, um ein sicheres (ganz zu schweigen von einem ergiebigen) Leben führen zu können. Er unterschreitet das minimale Level der ersten Fähigkeit.
26 Ein Mensch, dessen frontaler Hirnlappen schweren Schaden erlitten hat, ist vielleicht überhaupt nicht dazu in der Lage, aggressives oder gewaltsames Verhalten zu vermeiden, obwohl dieses Verhalten durch nichts na
416 hegelegt wird, was er denkt, wünscht oder für richtig hält. Dem Fähigkeitenprinzip zufolge sind der geistig Minderbemittelte und das Opfer schwerer Hirnschäden nicht reflexiv verantwortlich für jene Entscheidungen, die Ausdruck ihrer defizienten Fähigkeiten sind. Das Prinzip leugnet nicht, daß auch andere defiziente Fähigkeiten, Eigenschaften oder Umstände Gründe für Ausnahmen liefern können. (Ich werde gegen Ende dieses Kapitels einige Beispiele diskutieren.) Hier konzentrieren wir uns jedoch auf jene Mängel an Fähigkeiten, die das Fähigkeitenprinzip explizit anerkennt.
    Wie lassen sich diese Ausnahmen aufgrund von Unfähigkeit rechtfertigen? Ihnen liegt eine basalere ethische Überzeugung zugrunde: daß es zu einem gelungenen Leben gehört, nicht nur eine Chronologie, sondern auch eine Erzählung zu produzieren, die die Werte des Charakters – Loyalitäten, Ambitionen, Wünsche, Geschmacksvorlieben und Ideale – miteinander verwebt. Niemand schafft eine Erzählung von perfekter Integrität: Wir

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