Gerechtigkeit fuer Igel
hofft, gefaßt zu werden –, befindet sich in derselben Situation. Tatsächlich können psychische Krankheiten beide reflexive Fähigkeiten, entweder einzeln oder zusammen, in Mitleidenschaft ziehen; der schwere Verlust einer von beiden könnte sehr wohl ein definierendes Merkmal psychischer Krankheit sein.
28 Die Geschichte der Debatte über die Verteidigung unter Berufung auf Unzurechnungsfähigkeit, auf die ich etwas später in diesem Kapitel kurz eingehen werde, ist gekennzeichnet durch eine Pendelbewegung zwischen einer strengen Position, der zufolge die epistemische Fähigkeit verlorengegangen sein muß, und einer großzügigeren Sichtweise, der zufolge auch die regulative Fähigkeit von zentraler Bedeutung ist.
419 Die moralische Anwendung
Damit haben wir eine ethische Rechtfertigung des Fähigkeitenprinzips konstruiert. Das Prinzip funktioniert jedoch sowohl als ethisches als auch als moralisches Prinzip. In dieser weiteren Rolle fungiert es nicht direkt in unseren Urteilen darüber, wie gelungen das eigene Leben oder das anderer ist; statt dessen dient es unter anderem dem Zweck, eine Schwellenbedingung für Tadel und Sanktionen zu formulieren. Daher müssen wir fragen, welche Rechtfertigung es dafür gibt, dieses Prinzip auf diese Weise aus dem Bereich der Ethik in jenen der Moral zu exportieren. Wie ich im neunten Kapitel argumentiert habe, handelt es sich um eine zentrale Forderung der Selbstachtung, daß wir nicht nur die persönliche Verantwortung dafür übernehmen müssen, etwas aus unserem Leben zu machen, sondern daß wir auch das Prinzip, das genau dies von uns fordert, als objektives Wertprinzip behandeln. Im nächsten Kapitel werde ich zu zeigen versuchen, daß dies bedeutet, dieselbe Verantwortung im Fall anderer Personen anzuerkennen und zu achten. Diese Forderung kann nur dann erfüllt werden – wir können das Prinzip persönlicher Verantwortung also nur dann als objektives Prinzip behandeln –, wenn wir davon ausgehen, daß die persönliche Verantwortung für alle denselben Charakter und dieselbe Dimension hat. Daher müssen wir diesem Prinzip denselben Charakter und dieselbe Kraft in der Moral verleihen, die es in der Ethik hat.
Ich berufe mich auf das Fähigkeitenprinzip, wenn ich mich selbst kritisiere – etwa wenn ich überlege, ob es angemessen ist, mich für eine Entscheidung zu schämen, mich schuldig zu fühlen oder eine Entscheidung nur tief zu bedauern, von der ich wünsche, daß ich sie nicht getroffen hätte. Ich halte mich selbst für verantwortlich, sofern ich nicht feststellen muß, daß mir eine der für Verantwortung wesentlichen Fähigkeiten fehlte, als ich die Entscheidung getroffen habe. Welche Rechtfertigung könnte ich dafür haben, in der Beurteilung der Schuld anderer
420 Personen einen davon unterschiedenen – strengeren oder nachsichtigeren – Standard anzulegen? Das zu tun würde bedeuten, andere so zu beurteilen, wie ich mich selbst zu beurteilen weigere. Das aber wäre eine Mißachtung der anderen Person.
Uns ist bereits eine dramatische Variante dieses Fehlers begegnet. Manchen Kriminologen zufolge ist es immer falsch, Menschen für das, was sie getan haben, zu bestrafen, weil die Wissenschaft gezeigt hat, daß wir keinen freien Willen haben. Wir sollten die Menschen, die wir nun als Kriminelle bezeichnen, medizinisch behandeln statt als Verbrecher, in der Hoffnung, sie zu reprogrammieren statt sie zu bestrafen. Diese Sichtweise setzt voraus, daß »wir« eine Verantwortung haben, die anderen Menschen fehlt, daß wir in unserem eigenen Fall urteilen können, daß wir falsch gehandelt haben, während wir im Fall anderer Menschen nur sagen können, daß sie gefährlich oder unpassend gehandelt haben. Die meisten Menschen reagieren sehr negativ auf den Vorschlag, daß Gesetzesbrecher medizinisch behandelt statt strafrechtlich belangt werden sollten. Ihres Erachtens würde das zu einer Entmenschlichung der Straftäter führen. Meines Erachtens kommt in dieser Sichtweise ein Gespür dafür zum Ausdruck, daß der Vorschlag die wesentliche Bedingung nicht erfüllt, daß wir die Verantwortung anderer so behandeln müssen wie in unserem eigenen Fall.
Eine Illusion?
Ich habe den Epiphänomenalismus nun schon über einige Seiten vernachlässigt. Natürlich schenken wir und andere den Folgen unserer Handlungen, die wir vorhersehen oder vorhersehen sollten, bei der Beurteilung der Vorzüge und Nachteile unserer endgültigen Entscheidungen einige
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