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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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Beispiel junger Kinder. Erwachsene treffen Entscheidungen, die ihren Meinungen, Wünschen und Präferenzen Wirklichkeit verleihen. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß junge Kinder ihre Entscheidungen, die sie ohne Zweifel treffen, auf irgendeine andere Weise fällen. Daher haben wir keinen Grund, ihnen eine andere Art von interner Handlungsfähigkeit oder eine andere Entscheidungsursache zuzuschreiben. Welche Auffassung wir auch immer über die Willensfreiheit eines Erwachsenen haben, sie muß auch für junge Kinder gelten. Aber natürlich gibt es einen Unterschied: Es ist der Unterschied, den die alternative Interpretation des Systems der Verantwortung, das Fähigkeitenprinzip der Kontrolle, herausgreift. Junge Kinder haben eine am Maßstab normaler Erwachsener gemessen defiziente Fähigkeit, korrekte Meinungen über die Welt sowie über die Konsequenz, Klugheit und Moralität ihres Handelns und Wünschens auszubilden. Ihnen fehlt häufig das Wissen über »das Wesen und die Eigenschaften« ihrer Handlungen. Es ist diese defiziente Fähigkeit und nicht eine Annahme über die kausale Herkunft ihrer Entscheidungen, die der Überlegung zugrunde liegt, daß Kinder
406 teilweise oder ganz von der reflexiven Verantwortung entbunden sind.
    Wenden wir uns nun dem Fall einer Person zu, die an einer schweren psychischen Krankheit leidet: Sie hält sich selbst für Napoleon oder Gott und ist zudem der Auffassung, ihre Identität erlaube es ihr oder verlange es sogar von ihr, andere zu töten oder zu bestehlen. Ihr fehlt die normale Fähigkeit, Meinungen zu bilden, die an den Tatsachen und der Logik ausgerichtet sind. Sie ist verrückt, und das vertraute System der Verantwortung nimmt sie von der reflexiven Verantwortung aus diesem Grund aus. Es gibt jedoch keinen Grund zu der Annahme, daß die Entscheidungen dieser Person mehr oder weniger Einfluß auf ihre Handlungen haben, als wenn sie nicht verrückt wäre. Wie normale Menschen handelt auch sie in einer Weise, die auf der Basis einer vollständigen Kenntnis ihrer Meinungen und ihrer normativen Persönlichkeit vollständig vorhersagbar wäre. Sicher, wir halten es für natürlich zu sagen, ihre Krankheit habe sie dazu gebracht, jemand anderes zu töten, was darauf hindeuten könnte, daß etwas nicht stimmt mit der Vorgeschichte ihrer Entscheidungen. Dabei handelt es sich jedoch nur um eine Redewendung. Nehmen wir sie wörtlich, ergibt sie keinen Sinn. Genauer wäre es zu sagen, daß die Krankheit das Urteil der Person verzerrt hat. Aber auch in diesem Fall beziehen wir uns auf das Fähigkeitenprinzip und nicht auf das Kausalprinzip, um die Ausnahme zu rechtfertigen.
    Betrachten wir nun eine andere Art der psychischen Erkrankung: den Fall einer Person, die zwar über die normale Fähigkeit verfügt, wahre Meinungen zu bilden, und die gewöhnlichen moralischen, ethischen und prudentiellen Überzeugungen anhängt und dennoch permanent folgenreiche Entscheidungen trifft, die all diesen Überzeugungen zuwiderlaufen. Entsprechende Fälle können von Psychopathen – einem Mörder, der hofft, daß er gefaßt wird, bevor er den nächsten Mord begeht – bis zu physisch oder psychisch Abhängigen – dem Raucher, Heroinabhängigen, Alkoholiker oder zwanghaften Händewa
407 scher, der gerne damit aufhören würde, es aber nicht schafft – reichen. Wir sollten zwischen diesen Unglücklichen und Menschen, die per Hypnose zu einem bestimmten Verhalten gebracht werden, das sie ablehnen würden, oder die von einem Schurken mit einer gedankensteuernden Strahlenpistole psychologisch manipuliert werden, unterscheiden. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, hypnotisiert zu werden, und niemand weiß, wie es sich anfühlt, wenn die eigenen Impulse von außen ein- und ausgeknipst werden. Ich werde jedoch annehmen, daß die Betroffenen in diesen zuletzt genannten Fällen keine endgültigen Entscheidungen treffen: wirkliche, als solche empfundene Entscheidungen, die in jene Handlungen übergehen, die in den Entscheidungen ins Auge gefaßt werden. Ihr Verhalten ähnelt eher einem Hustenanfall oder anderen Effekten ihres autonomen Nervensystems. Sie handeln nicht und daher wirft ihr Verhalten die Frage der reflexiven Verantwortung gar nicht erst auf. (Sollte ich falschliegen, dann wirft ihr Fall genau dasselbe Problem auf wie die von mir diskutierten Krankheitsfälle.) Hingegen nehme ich sehr wohl an, daß Psychopathen und Abhängige endgültige Entscheidungen treffen: zu töten, sich eine

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