Gerechtigkeit fuer Igel
zu retten, an dem wir zufällig vorbeikommen. Das ist ein sehr eindrucksvolles Beispiel, weil die moralische Pflicht, die hier nicht vom Recht durchgesetzt wird, so unumstritten ist. Die Gefahr für das Kind stellt eine extreme Form des Schadens dar, während der von uns verlangte Aufwand, und damit die Kosten, die uns entstehen würden, am anderen Extrem liegt.
Nun sehen wir uns jedoch mit einer schwierigen Frage konfrontiert: Sollen wir uns zur Berechnung jener Kosten nach der aufrichtigen Einschätzung des potentiellen Retters richten oder nach einem objektiveren Maßstab streben? Drehen wir Scanlons Beispiel einmal um: Nehmen wir an, Sie können jemanden vor dem Verhungern retten, aber nur dadurch, daß Sie ein wenig Geld von Ihrem lebenslangen, mühseligen und kostspieligen Unterfangen abzweigen, Ihrem Gott einen Tempel zu errichten. Könnten Sie weiter behaupten, das menschliche Leben zu achten, wenn Sie sich unter diesen Umständen weigern würden zu helfen? Das Beispiel ist natürlich realitätsfern, aber es ist nicht schwer, vergleichbare Fälle in der Wirklichkeit zu finden. Müssen Sie hungernden Menschen in Afrika Geld spenden, wenn Sie jeden Cent benötigen, um Ihre eigenen kostspieligen Forschungen zu finanzieren oder eine teure Kameralinse, die notwendig ist, um jene photographische Perfektion zu erreichen, nach der Sie streben?
Hier könnte nun der Eindruck entstehen, man müsse stets
470 die eigene Einschätzung der Kosten zugrunde legen. Schließlich geht es immer noch um eine interpretative Frage – nämlich darum, wann Ihre Weigerung zu helfen Ausdruck einer mangelnden Achtung vor der objektiven Wichtigkeit menschlichen Lebens ist –, und die Antwort hängt davon ab, was die eventuell anfallenden Kosten für Sie bedeuten würden, und nicht für einen Menschen mit ganz anderen Ambitionen. Die Frage hat jedoch noch eine weitere Dimension: Kommt in der Tatsache, daß Sie sich so vollkommen jenem Tempel oder jener Forschung verschrieben haben, eine angemessene Achtung vor der Wichtigkeit des Lebens anderer Menschen zum Ausdruck?
6 Im neunten Kapitel habe ich zugestanden, daß jemand auch dann ein gutes Leben haben kann, wenn er dem Leiden anderer mit kalter Gleichgültigkeit begegnet: Erinnern Sie sich an mein Beispiel des mörderischen Renaissance-Prinzen, der dennoch ein gutes Leben hatte. Ob jemand, der ein solches Leben wählt, damit die von der Würde geforderte Selbstachtung an den Tag legt, ist eine andere Frage.
Ich argumentiere hier also nicht für den von mir zuvor zurückgewiesenen Gedanken, daß die Selbstachtung von uns verlangt, das eigene Leben ganz in den Dienst der anderen zu stellen. Einige Heilige haben das getan und vielleicht hätte die Authentizität ihnen etwas anderes auch gar nicht erlaubt. Aber auch den Bedürfnissen anderer etwas weniger Aufmerksamkeit zu schenken, als normal wäre, kann im Einklang mit der Selbstachtung stehen: Denken Sie etwa an das Leben eines Künstlers oder Wissenschaftlers, der in seinem Beruf aufgeht. In einem solchen Leben kann ein Sinn für die objektive Wichtigkeit des Lebens anderer Menschen zum Ausdruck kommen, ohne daß die betreffende Person sich unter allen Umständen zur Hilfe in Not verpflichtet fühlt, die für Menschen mit weniger zielbewußten Leben relevant wären. Wenn sich aber ein Mensch einem Lebensplan verschreibt, der es erfordert, das Leiden anderer vollkommen zu ignorieren, ist er entweder ein hoffnungsloser Egoist oder ein Fanatiker. In beiden Fällen fehlt es ihm an
471 Selbstachtung, denn seine Auffassung von einem angemessenen Leben ist nicht mit der geforderten Berücksichtigung der objektiven Wichtigkeit des Lebens anderer und daher auch seines eigenen vereinbar. Einerseits gibt es also zwischen unserer Beurteilung der Nöte des Opfers und der Kosten für den potentiellen Retter eine gewisse Asymmetrie, da wir uns nicht danach richten, wie andere die Kosten für einen potentiellen Retter gewichten würden, sondern danach, was jenem Retter selbst vor dem Hintergrund seiner Auffassung davon, was eine gelungene Lebensführung von ihm verlangt, als wichtig erscheint. Aber andererseits wird diese Asymmetrie dadurch eingeschränkt, daß bei jedem ethischen Urteil die Forderungen der Würde vorausgesetzt werden.
Konfrontation
Die dritte Bewertungsskala ist schwieriger zu formulieren und zu rechtfertigen, aber sie ist nicht weniger real, und wir können nicht wirklich zu einer adäquaten Auffassung gängiger moralischer
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