Gerechtigkeit fuer Igel
muß es sich dabei um eine spezifische Form der assoziativen Verpflichtung handeln. Unsere politischen Pflichten müssen darauf beruhen, daß wir in einer besonderen Beziehung zu unseren Mitbürgern stehen, die unabhängig von unserer Zustimmung mit einer besonderen Verantwortung gegenüber diesen Menschen einhergeht.
Vielleicht finden Sie den Gedanken, daß wir zu allen unseren Mitbürgern eine besondere Beziehung haben könnten, problematisch. Unsere Eltern, Kinder, Partner und Freunde sind uns sehr vertraut, mit Kollegen und sogar unseren Nachbarn sind wir zumindest persönlich bekannt. Beides trifft auf unsere Mitbürger im allgemeinen nicht zu, falls es nicht um eine wirklich winzige Gemeinschaft geht, und viele US -Amerikaner haben zudem eine engere und persönlichere Beziehung zu bestimmten Menschen anderer Länder als zu fast allen Bewohnern ihres eigenen Landes. Welche assoziative Verpflichtung also zwischen Menschen nur deshalb bestehen soll, weil sie gegebenenfalls dieselbe Fahne grüßen, scheint zunächst rätselhaft. Die Antwort ist hier nicht in einer Geschichte der Entstehung und Entwicklung politischer Gemeinschaften zu finden. Wie die politischen Grenzen der Vereinigten Staaten, Frankreichs oder anderer Länder genau verlaufen, hängt letztlich mit einer Reihe historischer und geographischer Zufälle zusammen – etwa dem Verlauf eines Flusses oder der Entschei
542 dung eines Königs, an einem bestimmten Ort Rast zu machen. Die moralische Bedeutsamkeit des Mitbürgerseins kann nicht auf etwas zurückgeführt werden, das jenen kontingenten Gruppenbildungen vorausging oder sie historisch erklärt, sondern muß in den heutigen Auswirkungen jener Zufälle gründen.
Politische Verpflichtung folgt auf dieselbe Weise aus politischen Assoziationen, wie die anderen bereits erwähnten Verpflichtungen dieses Typs aus anderen Arten der Assoziation folgen. Wenn nicht alle Mitglieder einer politischen Organisation, die Zwang ausübt, eine wechselseitige Verantwortung akzeptieren, kollektive Entscheidungen zu achten, wenn alle angemessenen Bedingungen erfüllt sind, dann steht diese Organisation im Konflikt mit der Würde ihrer Mitglieder. Um zu erklären, warum das so ist, werde ich kurz auf das Paradox der Zivilgesellschaft eingehen. Eine gemeinsame Zwangsregierung ist für unsere Würde von wesentlicher Bedeutung, weil sie für eine gewisse Ordnung und eine Effizienz gebraucht wird, die uns ein gutes Leben und eine gelungene Lebensführung ermöglichen. Anarchie würde daher einen völligen Verlust der Würde nach sich ziehen. Trotzdem können auch Zwangsregierungen ein Leben in Würde unmöglich machen. Es ist nicht zu vermeiden, daß bestimmte Mitglieder der Gemeinschaft sehr viel Macht über die anderen ausüben; sie müssen drohen, Ungehorsam zu bestrafen, und diese Drohung manchmal auch in die Tat umsetzen.
Das gefährdet beide Prinzipien der Würde. Wie kann ich angesichts der besonderen Verantwortung, die ich für mein eigenes Leben trage, die Herrschaft anderer über mich akzeptieren? Wie kann ich mich daran beteiligen, andere zu zwingen, sich meinen Wünschen entsprechend zu verhalten, obwohl ich doch respektiere, daß ihre Leben gleichermaßen objektiv wichtig sind? Jeder Mensch, der kein absoluter Diktator ist, sieht sich mit der ersten Frage konfrontiert, und viele von uns – in echten Demokratien fast alle erwachsenen Bürger – auch mit der zweiten, die gleichermaßen drängend ist. Wir dür
543 fen selbst uns fremden Menschen nicht zu unserem eigenen Vorteil Schaden zufügen, und das gilt ebenso für kollektive Handlungen wie für individuelle. Wenn ich mich mit meinen Verbündeten zusammentue, um einen Menschen einzusperren oder sein Eigentum zu stehlen, käme darin die gleiche Verachtung für jenes Opfer und damit auch für mich selbst zum Ausdruck, wie es der Fall wäre, wenn ich allein gehandelt hätte. Zum politischen Miteinander einer Demokratie gehört die Möglichkeit, daß wir alle uns tagtäglich wechselseitig auf diese Weise Schaden zufügen.
Bei der Lösung dieses Paradoxes sind wir ein weiteres Mal vor eine interpretative Herausforderung gestellt. Wir müssen unser Verständnis dessen, was die Prinzipien der Würde von uns verlangen, noch weiter ausbauen, als es bisher geschehen ist, um herauszufinden, welche politischen Maßnahmen mit ihnen vereinbar sind. Wir haben bereits akzeptiert, daß das zweite Prinzip – daß wir für unser je eigenes Leben Verantwortung
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