Gerechtigkeit fuer Igel
übernehmen müssen – unter bestimmten Bedingungen zuläßt, diese Verantwortung mit anderen zu teilen. In diesem Zusammenhang habe ich zuvor auf intime Beziehungen hingewiesen, die durch eine erhöhte wechselseitige Anteilnahme oder Rücksichtnahme gestützt werden, und die politische Assoziation ist ein weiteres Beispiel hierfür. Wir finden uns in Beziehungen und Assoziationen wieder, die wir brauchen und auch gar nicht vermeiden können, die aber mit einer Angreifbarkeit einhergehen, die nur dann mit unserer Selbstachtung vereinbar ist, wenn jene Assoziationen reziprok sind – wenn sie also beinhalten, daß ein jeder kollektive Entscheidungen zumindest im Prinzip als verpflichtend begreift. Wenn keine solche Verpflichtung vorliegen würde und wir davon ausgehen würden, daß es uns moralisch freisteht, solche Entscheidungen jederzeit zu ignorieren, wann immer wir das wollen und könnten, müßten wir allen anderen Mitgliedern der Gemeinschaft dieselbe moralische Freiheit zusprechen. Unser Staat wäre dann ein Tyrannenstaat, der Menschen zu Handlungen zwingt, zu denen
544 sie nicht wirklich verpflichtet sind, und wir würden jedesmal, wenn wir den Drohungen der Gemeinschaft nachgeben oder uns am Aussprechen und Umsetzen solcher Drohungen beteiligen, unserer Würde zuwiderhandeln. Die hier als politisch bezeichnete assoziative Verpflichtung zu akzeptieren und das auch von anderen zu erwarten, ist ein wichtiger Teil unserer eigenen ethischen Verpflichtung.
Unsere politische Verpflichtung ist in bestimmter Hinsicht genauer definiert als die anderen zuvor thematisierten assoziativen Verpflichtungen. Was sie beinhaltet, wird durch eine Verfassungsordnung und Verfassungsgeschichte festgelegt, also mit anderen Worten durch gesetzgebende Verfahren und in manchen Fällen auch durch die Rechtsprechung. Zugleich ist aber manchmal umstrittener, welche moralischen Folgen sich hieraus genau ergeben. So ist zum Beispiel keineswegs klar, wann ziviler Ungehorsam eine angemessene Umsetzung der allgemeinen Verpflichtung jedes Bürgers ist, sich konstruktiv an der Ausarbeitung dessen zu beteiligen, was in seiner Gemeinschaft als von der Würde der Mitglieder gefordert betrachtet wird. In bestimmten Schreckensszenarien könnte man auch argumentieren, daß es keine politische Verpflichtung mehr gibt, und zwar dann, wenn die Regierung, die an der Macht ist, nicht länger legitim ist. Wenn jene vorgebliche Assoziation der Bürger selbst eine Unrechtsmacht ist, kann sie keine assoziative Verpflichtung nach sich ziehen; wie ich bereits bemerkt habe, haben Mitglieder der Mafia keine aus ihrer Mitgliedschaft entstehenden Verpflichtungen. Eine komplizierte politische Verpflichtung kann selbst dann bestehenbleiben, wenn die bestehenden Gesetze hinsichtlich ihrer Auswirkungen und Zwecke unterschiedlich gut sind, aber sie kann auch vollkommen aufgelöst werden. Dann geht es nicht länger um Ungehorsam, sondern um Revolution.
545 Legitimität
Eine politische Verpflichtung ist, wie ich bereits erklärt habe, nur unter bestimmten Bedingungen gegeben. Wenn die Regierung einer politischen Gemeinschaft diese Bedingungen erfüllt, kann man sie legitim nennen. Legitimität hat also zwei Dimensionen: Sie hängt davon ab, wie die de facto Regierung an die Macht gekommen ist, und zugleich davon, wie sie diese Macht einsetzt. Ich gehe im 18. Kapitel auf die Frage der Machtübernahme ein und auf die der Ausübung hier sowie im ganzen fünften Teil.
Legitimität ist etwas anderes als Gerechtigkeit. Regierungen haben eine souveräne Verantwortung, alle Menschen in ihrem Machtbereich gleichermaßen zu berücksichtigen und zu achten, und je besser ihnen das gelingt, desto gerechter sind sie. Wie genau dieses Gelingen aber zu verstehen ist, bleibt kontrovers. Staaten, Parteien und auch einzelne politische Philosophen vertreten diesbezüglich unterschiedliche Positionen, und ich werde im fünften Teil dieses Buches versuchen, eine jener kontroversen Theorien zu verteidigen. Regierungen können aber ungeachtet dessen legitim sein – oder anders ausgedrückt: Die Bürger eines Staates können selbst dann prinzipiell verpflichtet sein, den Gesetzen zu gehorchen, wenn diese nicht vollkommen oder auch nur größtenteils gerecht sind. Wenn man die konkreten Gesetze und anderen Regelungen dennoch so interpretieren kann, als trügen sie dem Gedanken Rechnung, daß das Schicksal jedes Bürgers gleichermaßen wichtig ist und jeder eine Verantwortung hat, das
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