Gerechtigkeit fuer Igel
wohlmeinenden Interpretation dessen in Übereinstimmung zu bringen, was die Würde eines jeden Bürgers von uns verlangt.
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Diese kurze Charakterisierung enthüllt bereits den wichtigsten Unterschied zwischen den beiden Konzeptionen der Demokratie. Der majoritären Auffassung zufolge muß Demokratie rein prozedural verstanden werden, während die partnerschaftliche Konzeption einer Demokratie substantielle Bedingungen der Legitimität auferlegt. Weil Legitimität eine Frage des Grades ist, gilt das dieser Auffassung zufolge auch für
650 die Demokratie. Sie ist also zwar lediglich ein Ideal, nach dem bestimmte politische Gemeinschaften streben, wobei manche von ihnen erfolgreicher sind als andere, aber zumindest handelt es sich bei der Idee der Selbstregierung, wenn wir von einer partnerschaftlichen Auffassung ausgehen, um ein sinnvolles Ideal. Das kann man, wie ich zeigen werde, von der majoritären Konzeption nicht behaupten, weil hier von einer Selbstregierung der Mitglieder politischer Minderheiten überhaupt keine Rede sein kann – ebensowenig wie von der Selbstregierung der individuellen Mitglieder der Mehrheit.
Dieser gewichtige Unterschied zwischen den beiden Konzeptionen wird durch die Debatte über die Vereinbarkeit von Demokratie und judicial review auf augenfällige Weise veranschaulicht, die vor allem in den Vereinigten Staaten, aber zunehmend auch in anderen Ländern geführt wird. Die majoritäre Konzeption schließt ein politisches System, in dem Richter der Verfassung Geltung verschaffen können, indem sie Gesetze für null und nichtig erklären, nicht automatisch aus. Findige Juristen und Philosophen haben die Auffassung vertreten, daß die judicial review , wenn sie richtig institutionalisiert und begrenzt wird, durchaus in den Dienst der majoritären Konzeption gestellt werden kann, da sie es wahrscheinlicher macht, daß die Gesetzgebung die überlegte Sichtweise der Mehrheit widerspiegelt. So müssen die Richter etwa John Hart Ely zufolge die Macht des Volkes dadurch schützen, daß sie die Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse gegen Politiker verteidigen, die Korruption und Unfähigkeit zu verschleiern bestrebt sind, und auch Janos Kis ist der Auffassung, daß Gerichte das Volk vor Amtsinhabern schützen können, die weit weniger bemüht sind, dem Willen der Mehrheit Folge zu leisten, wenn dieser Wille sie daran hindern könnte, weiterhin an der Macht zu bleiben.
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Dennoch begegnen Vertreter einer majoritäre Auffassung der judicial review mit einem gewissen Mißtrauen und sind dagegen, daß Richter bestimmte Gesetze – etwa über die Todes
651 strafe, Gebete in öffentlichen Schulen oder, wie in manchen US -amerikanischen Staaten, die Einschränkung von frühen Schwangerschaftsabbrüchen – für ungültig erklären können, in denen schließlich der Wille einer stabilen und wohlinformierten Mehrheit zum Ausdruck kommt. Obwohl ihnen durchaus bewußt ist, daß es umstritten ist, ob eine politische Mehrheit die Macht haben sollte, solche Gesetze zu erlassen, bestehen sie darauf, daß solche Fragen, gerade weil sie kontrovers sind, von der Mehrheit selbst entschieden werden müssen. Solche zentralen politischen Fragen einer kleinen Gruppe von Juristen zu überlassen, die in keiner Wahl aus dem Amt gejagt werden können, stehe in grundlegendem Widerspruch zur Idee der majoritären Demokratie. Dieser Sichtweise zufolge ist die judicial review nicht mit der von der Würde gewöhnlicher Bürger geforderten positiven Freiheit vereinbar.
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Wenn man von einer partnerschaftlichen Auffassung von Demokratie ausgeht, erweist sich dieses bekannte Argument jedoch als offensichtlich zirkulär. Es setzt voraus, daß die politische Mehrheit die moralische Autorität hat, kontroverse Fragen für alle verbindlich zu entscheiden, aber der partnerschaftlichen Auffassung zufolge hat eine Mehrheit nur dann die moralische Autorität, überhaupt etwas zu entscheiden, wenn ihre Regierungsinstitutionen hinreichend legitim sind. Bei der judicial review handelt es sich nun aber um eine mögliche (und ich betone: nur eine mögliche) Methode, die Legitimität der Regierung zu erhöhen – indem etwa die ethische Unabhängigkeit von Minderheiten garantiert wird –, in der ja das moralische Recht der Mehrheit, in anderen Fragen ihren Willen durchzusetzen, gründet.
652 Welches Modell ist überzeugender?
Fairneß?
Wie sollen wir uns zwischen diesen beiden Demokratiekonzeptionen entscheiden? In der
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