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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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vielleicht weisen sie sogar eher in diese Richtung. Ich werde dieses Verständnis hier etwas zugespitzt darstellen, weil es mir nur darum geht, den relevanten Kontrast deutlich zu machen, und Nuancen daher nicht so wichtig sind. Mitglieder einer politischen Gemeinschaft, die guten Willens, aber hinsichtlich ihrer ethischen und moralischen Überzeugungen unterschiedlicher Meinung sind, stehen vor einem immensen praktischen Problem. Wie können sie in einem Staat, der auf die Bürger Zwang ausübt, zusammenleben und zugleich ihre Selbstachtung bewahren? Wenn sie alle darauf bestehen würden, daß die Regierung ihre jeweiligen privaten Überzeugungen durchsetzt, würde die Gemeinschaft auseinanderbrechen, als handele es sich, mit Kant gesprochen, um einen politischen Turmbau zu Babel. Die Lösung besteht darin, die in ausreichendem Maße vorhandenen Gemeinsamkeiten in
117 Form strikt politischer Prinzipien zusammenzutragen und eine politische Verfassung zu erarbeiten, die nur auf jenen Prinzipien aufbaut. Alle Mitglieder der Gemeinschaft können – zumindest insofern sie vernünftig sind – diese Verfassung akzeptieren, weil sie im Bereich des übergreifenden Konsenses bleibt. Sie wissen, daß ihre jeweils unterschiedlichen allgemeineren ethischen, religiösen und politischen Überzeugungen diese Prinzipien stützen oder sie zumindest nicht widerlegen. Daher können sie eine auf diesen Prinzipien aufbauende gesellschaftliche Grundstruktur akzeptieren und so zusammen eine politische Gemeinschaft bilden, die in dem Sinne »wohlgeordnet« ist, daß alle Mitglieder dieselben Gerechtigkeitsprinzipien anerkennen und befolgen. Der Urzustand ist ein plausibles Darstellungsmittel zur Modellierung jener geteilten Überzeugungen und erlaubt uns die Konstruktion von Gerechtigkeitsprinzipien wie etwa jenen, die ich eben erwähnt habe. Wir alle müssen diese Prinzipien hier und jetzt akzeptieren, wenn wir friedlich und in menschenwürdiger Weise zusammenleben wollen.
    Häufig wird diese zweite Interpretation des Urzustands als Beispiel für eine konstruktivistische Vorgehensweise angeführt. Ein so verstandener Konstruktivismus muß auf keinen Skeptizismus hinauslaufen und ist sogar mit den extravagantesten Versionen eines moralischen »Realismus« vereinbar, da er nicht leugnet, daß eine der umfassenden Sichtweisen wahr und alle anderen falsch sein könnten. Allerdings wird diese Annahme auch nicht vorausgesetzt. Dieser Interpretation zufolge werden die im Urzustand modellierten Prinzipien gewählt nicht weil sie wahr sind, sondern weil sie von allen geteilt werden. Der so verstandene konstruktivistische Ansatz ist also mit jeglicher Form des Skeptizismus hinsichtlich moralischer Wahrheit vereinbar. An manchen Stellen scheint Rawls selbst eine vollkommen skeptische Sichtweise zu vertreten: »Außerdem hat der Gedanke einer Annäherung an moralische Wahrheit in einer konstruktivistischen Lehre keinen Platz: die Parteien im Urzustand erkennen nicht irgendwelche Gerechtigkeitsgrundsätze
118 als wahr und korrekt an und sehen sie somit nicht als vorgegeben an; ihr Ziel besteht schlicht darin, die im Hinblick auf ihre Situation für sie rationalste Konzeption auszuwählen. Diese Konzeption wird nicht als eine brauchbare Annäherung an die moralischen Tatsachen betrachtet: es gibt keine solchen Tatsachen, der sich die angenommenen Grundsätze annähern könnten.«
26 Wenn wir Rawls hier folgen, läßt sich aus dem konstruktivistischen Ansatz an sich keine skeptische Argumentation gewinnen, sondern nur zeigen, daß man eine sehr plausible und elaborierte Theorie politischer Gerechtigkeit vertreten kann, ohne auf die Frage der moralischen Wahrheit einzugehen. Der Konstruktivismus widerspricht der gewöhnlichen Sichtweise also nicht direkt, sondern versucht, sie beiseite zu drängen.
    Kann eine solche Marginalisierung funktionieren? Die Frage ist, wie jene gemeinsamen Prinzipien identifiziert werden sollen – denken Sie hier etwa an eine bestimmte Auffassung des Selbst. In diesem Zusammenhang hat Rawls mit den Jahren zunehmend auf die Geschichte und die politischen Traditionen konkreter Staaten verwiesen. Anstatt sich mit der Rechtfertigung einer kosmopolitischen Verfassung zu befassen, versuchte er, innerhalb bestimmter historisch konstituierter Gemeinschaften allgemein akzeptierte Prinzipien zu finden – etwa in der liberalen Tradition Nordamerikas und Europas im Anschluß an die Aufklärung.
27 Aber nicht einmal hierfür genügt

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