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Gerechtigkeit fuer Igel

Gerechtigkeit fuer Igel

Titel: Gerechtigkeit fuer Igel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Dworkin
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daß wir unsere moralischen Überzeugungen bei der Entscheidung, welche politischen Maßnahmen wir unterstützen, verraten, indem wir zum Beispiel zulassen, daß mit Menschen aus anderen Ländern auf eine gewaltsame und ungerechte Weise umgegangen wird, die wir unseren Mitbürgern nicht zumuten würden – denken Sie etwa daran, wie viele US -Amerikaner mit der Behandlung der Insassen von Guantánamo Bay einverstanden waren und sind.
    Wir können solche Widersprüchlichkeiten im Bereich der persönlichen ebenso wie der politischen Überzeugungen beobachten. Wenden wir uns nun Konflikten zwischen Ansichten aus jenen weiter entfernten Bereichen zu. So wird gegenwärtig zum Beispiel oft behauptet, aufgrund terroristischer Greueltaten müsse man eine neue Balance zwischen Freiheit und Sicherheit finden und normalerweise im Rahmen des Strafrechts garantierte individuelle Rechte einschränken, um besser vor der terroristischen Bedrohung geschützt zu sein. Ist das damit vereinbar, was wir über Charakterstärke und den Wert persönlicher Zivilcourage denken? Eigentlich erfordern diese Tugenden, daß wir bereit sind, für das, woran wir glauben, gewisse Risiken in Kauf zu nehmen.
    Oder denken Sie an noch weiter auseinanderliegende Bereiche wie zum Beispiel persönliche Prioritäten und die Frage politischer Gerechtigkeit. Es ist durchaus möglich, daß ich entweder ganz bewußt oder implizit eine utilitaristische Auffassung von Verteilungsgerechtigkeit habe, der zufolge sie von der Erreichung eines kollektiven sozialen Ziels abhängt, etwa dem, die Gemeinschaft insgesamt reicher oder glücklicher zu machen, zugleich aber meine persönlichen Ambitionen und Abwägungen darauf beruhen, daß Reichtum und eigentlich auch persönliche Zufriedenheit letztlich nicht entscheidend sind.
184 Ich könnte zum Beispiel der Meinung sein, daß bestimmte Erfolge und Leistungen viel mehr damit zu tun haben, ob ich ein erfolgreiches Leben geführt habe, als die Frage, wie glücklich ich war. Oder ich könnte für eine egalitäre Umverteilung des Reichtums der Gemeinschaft sein ungeachtet dessen, wer in der Lage oder willens ist zu arbeiten, weil ich glaube, daß die Produktivität und die entsprechenden Dispositionen eines Menschen auf seine sozialen Umstände zurückgeführt werden können und es daher falsch wäre, ihm ein anständiges Leben vorzuenthalten, nur weil er faul ist. An mein eigenes Verhalten lege ich aber ganz andere Maßstäbe an: Ich tue mein Bestes, um gegen meine Trägheit anzukämpfen, und mache mir Vorwürfe, wenn ich es nicht schaffe, meine Pläne umzusetzen.
    Jedes dieser vielen Beispiele eines scheinbaren Konflikts oder der Fragmentierung von Prinzipien muß natürlich für spätere Überprüfungen offenbleiben. Der Konflikt könnte sich durch weitergehendes Nachdenken oder weitere Diskussionen auflösen. Ich könnte zum Beispiel der Meinung sein oder nach weiterem Nachdenken zu der Auffassung kommen, daß die Unterschiede zwischen der politischen Situation im Balkan und im Irak es rechtfertigen, daß ich Militärinterventionen in diesen beiden Regionen unterschiedlich beurteile; daß Politiker gegenüber den Bürgern ihres Landes eine größere Verantwortung haben als wir als Individuen gegenüber unseren eigenen Familien; daß der Unterschied zwischen Mut und Tollkühnheit erklärt, warum unser Verhalten gegenüber Terrorverdächtigen nicht feige ist; daß eine Gerechtigkeitstheorie durchaus auf Annahmen über Wohlergehen und Verantwortung von Menschen beruhen kann, die Vertreter dieser Theorie in ihrem Privatleben nicht akzeptieren würden. Wenn ich tatsächlich dieser Meinung bin oder durch Deliberation zu diesem Ergebnis komme, dann haben sich meine moralischen Ansichten als komplexer und einheitlicher herausgestellt, als es zunächst erschien. Das ist aber keineswegs unumgänglich: Es kann durchaus sein, daß weiteres Nachdenken statt dessen meine Unfähigkeit ans Licht
185 bringt, den Prima-facie -Konflikt meiner Überzeugungen durch prinzipielle Unterscheidungen aufzulösen, die ich wiederum in vollem Maße vertreten kann. Wenn das der Fall ist, dann habe ich eine weitere Unzulänglichkeit hinsichtlich meiner moralischen Verantwortung entdeckt. Meine Überzeugungen sind nicht ernsthaft genug, und manchmal kann mein Verhalten anderen gegenüber am besten durch etwas anderes erklärt werden – vielleicht Eigeninteresse, Konformitätsdrang oder einfach intellektuelle Faulheit –, und das heißt, daß ich

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