Gerechtigkeit fuer Igel
möglich, müssen wir dabei stets alle anderen Überzeugungen und auch die uns als intuitiv richtig erscheinende Lebensweise mitbeachten. Auf diese Weise erweitern und festigen wir den operativen Filter. In den verbleibenden Teilen dieses Buches geht es mir vor allem darum, beispielhaft zu zeigen, wie man das tun kann.
Verantwortung und Philosophie
Ich habe bisher nicht versucht, die moralische Phänomenologie einer verantwortungsbewußten Person zu beschreiben, sondern gezeigt, wie man sich das geistige Leben eines Menschen vorstellen könnte, der seiner Verantwortung vollkommen gerecht wird. Inzwischen sollte aber deutlich geworden sein, daß dieses Ziel nicht zur Gänze erreicht werden kann, selbst wenn wir uns gezielt darum bemühen. Es ist uns nicht möglich, un
188 seren Willen in ein dichtes, detailliertes und kohärentes Filtersystem von miteinander verwobenen Überzeugungen zu hüllen, das wirklich in allen Fällen wirksam ist und dessen innere Harmonie uns als stetige Orientierung dient. So etwas wäre dem von Kant ausgemalten Menschen zuzusprechen, dessen Wille vollkommen gut ist. Keiner von uns ist jedoch intelligent, kreativ und tugendhaft genug, um diesem Ideal zu entsprechen. Wir müssen unsere moralische Verantwortung also als immerwährende Aufgabe begreifen. Wenn wir moralische Integrität und Authentizität als Ideale anerkennen und uns redlich darum bemühen, ihnen gerecht zu werden, können wir verantwortungsbewußt genannt werden. Im Prinzip muß es sich dabei um eine individuelle Anstrengung handeln, zum einen, weil jede Person von leicht unterschiedlichen Überzeugungen ausgeht, und zum anderen, weil man letztlich nur selbst beurteilen kann, wie authentisch man die Überzeugungen vertritt, auf die man sich letztlich festlegt. Trotzdem wäre es absurd zu erwarten, daß jeder Mensch die für eine uneingeschränkte Reflexion der eigenen moralischen Verantwortlichkeit erforderliche philosophische Anstrengung auf sich nehmen sollte. Darum ist die moralische Interpretation, wie so viele andere wichtige Aufgaben auch, eine Frage der Bildung in der Gesellschaft und der Arbeitsteilung.
Wie ich in späteren Kapiteln noch näher ausführen werde, sind Sprache und Kultur einer Gemeinschaft sowie die vorhandenen Gelegenheiten für erhellende Gespräche und intellektuellen Austausch von entscheidender und unverzichtbarer Bedeutung bei der individuellen Beschäftigung mit der eigenen Verantwortung. Zudem kommt der Politischen Philosophie und der Moralphilosophie in diesem Zusammenhang ebenfalls eine ganz bestimmte Funktion zu, und zwar auf der Basis von in der Gemeinschaft zwar weitverbreiteten, aber nicht integrierten moralischen Neigungen, Reaktionen, Ambitionen und Traditionen, explizite und reflektierte Wertesysteme und Prinzipien herauszuarbeiten – wobei diese Aufgabe natürlich nicht
189 auf sie beschränkt ist. Philosophen müssen neue Verbindungen herstellen und Inkonsistenzen zwischen wohlvertrauten Diskursen und verschiedenen Bereichen der Moral und der Ethik ausfindig machen, indem sie die vorhandenen theoretischen Auffassungen verallgemeinern oder konkretisieren, ihren Geltungsbereich erweitern und sie besser integrieren. So können Vertreter einer philosophischen Schule oder eines bestimmten Ansatzes, die sehr ähnliche Ansichten haben, versuchen systematisch herauszuarbeiten, welche Pflichten verantwortungsbewußte Menschen auf der Grundlage dieser Ansichten hätten; etwa indem sie ein liberales Modell der moralischen Verantwortung entwickeln. Solche systematischen Darstellungen sind für andere reflektierte Menschen sehr wertvoll, die mit diesem Verständnis von Verantwortung viel anfangen können, weil sie entweder bereits ähnliche allgemeine Werte vertreten oder sie zumindest in dieser integrierten Weise dargelegt sehr attraktiv finden. Selbst wenn man ein bestimmtes philosophisches System ablehnt, kann man manchmal aus seinem Aufbau etwas darüber lernen, wie man Verantwortung vor dem Hintergrund seiner eigenen Vorstellungen verstehen sollte.
Auf diese Weise kann die Moralphilosophie Menschen beeinflussen und sie als Individuen verantwortungsbewußter machen. Es gibt Dorftrottel-Skeptiker, die wenig von dem halten, was sie als philosophische Anmaßung und Arroganz sehen, und darum spotten, daß es keinem Moralphilosophen je gelungen ist, einen Menschen zu überzeugen, der von anderen moralischen Intuitionen oder einem anderen Vorwissen ausgeht. Diese Behauptung ist ebenso albern wie
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