German Angst
andere auffällig und im Beruf ein Risiko, jeden Tag von neuem. Hochgehoben und hingesetzt. Was hätte er tun, wie hätte er reagieren sollen? Jetzt kam es Thon vor, als habe er in einer Art Schockzustand die weiteren Aufgaben verteilt. Konnte er denn allen Ernstes zur Tagesordnung übergehen? Bin ich hier der Sandsack, den man einfach mal abwatscht, wenn einem was nicht passt, wenn man seine Aggressionen loswerden will, wenn man sich abreagieren muss, weil man mit der Meinung eines anderen nicht einverstanden ist? Lucy Arano. Natürlich war sie eine Kriminelle. Natürlich war sie gemeingefährlich. Natürlich musste sie bestraft werden, hart bestraft, da ihr anscheinend jedes Unrechtsbewusstsein fehlte. Aber war eine Abschiebung die Lösung? Wieso eigentlich nicht, wenn es das Gesetz erlaubte? Wer wusste schon, ob die Familie Arano nicht doch Verwandte in Nigeria hatte? Niemand hatte das bisher überprüft.
Will ich wirklich ein Kind abschieben?, fragte er sich. Gut, sie ist kein Kind mehr, sie ist eine Jugendliche, sie ist vierzehn und sieht aus wie siebzehn oder gar achtzehn. Außerdem kann ihr Vater sie begleiten. Er hat nie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, wieso nicht? Weil er eines Tages zurück in seine Heimat will, wieso sonst? Er ist damals nicht freiwillig weggegangen. Natürlich nicht. Vielleicht musste man nur mal mit ihm reden, ihm die Dinge auseinandersetzen, vielleicht war er einsichtig, vielleicht wäre er längst in seine Heimat zurückgekehrt, wenn er keine Tochter hätte. Vielleicht hätte er sich längst entschieden, aber sie machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Wer wusste das schon? Man sollte ihn fragen, man muss ihn fragen, ich werde ihn fragen.
Der Kleiderhaken an der Kabinentür war abgebrochen, es roch nach Desinfektionsmittel und Zitrone, die Wände waren weiß gestrichen und niemand hatte etwas hingekritzelt. Er hockte auf der zugeklappten Toilette und genoss die Ruhe. Niemand kam herein, niemand stellte ihm Fragen. Bin ich einverstanden mit dem, was Ronfeld gesagt hat? Wäre das eine Möglichkeit, Natalia Horn freizubekommen? Ist es wahr, dass hinter den Kulissen Lucy Aranos Abschiebung bereits beschlossene Sache ist? Und wenn es wahr ist, wer wird der Öffentlichkeit hinterher erklären, dass die Abschiebung nicht auf Druck der rechtsradikalen Entführer zu Stande kam, sondern nur etwas vorwegnahm, was sowieso nicht zu verhindern gewesen wäre? Kein Mensch würde das glauben. Welche Taktik verfolgte der Staatsanwalt? Welche Interessen hatte er bei dem Fall?, dachte Thon und stand ruckartig auf. Mit ausgestreckten Armen stützte er sich gegen die Tür, wartete ein paar Sekunden und verließ dann die Kabine. Mit kaltem Wasser rieb er sich das Gesicht ab. Ich weiß nicht, was er vorhat, aber wie er heute in der Pressekonferenz und danach agiert hat, das war unüblich und entsprach nicht dem normalen Gebaren einer vorgesetzten Behörde.
Auf einmal hatte Thon den Eindruck, er wolle mit diesen Überlegungen Südens Verhalten entschuldigen. Das wollte er bestimmt nicht. So leicht mach ichs dir nicht! Es würde der richtige Zeitpunkt kommen, um die Angelegenheit noch einmal auf den Tisch zu bringen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Und wenn er mit Funkel nicht vernünftig darüber reden konnte, dann würde er sich notfalls an den Direktor wenden. Hochgehoben und hingesetzt. Den Leiter einer Abteilung hebt man nicht hoch und setzt ihn auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch des Vorgesetzten.
Du steigerst dich schon wieder rein, hör auf!, dachte er. Hör jetzt auf! Im Moment brauchte er seine ganze Kraft und Konzentration für die Soko Natalia. Zusätzlich stresste ihn die ständige Gegenwart der Journalisten und nach wie vor hatte er keine Erklärung dafür, weshalb er von Beginn seiner Polizeilaufbahn an so allergisch auf die Presse reagierte.
Als er ins Vorzimmer seines Büros kam, sprach Erika Haberl, seine Sekretärin, gerade mit Tabor Süden. Thon bat ihn nach nebenan.
Aber Süden wehrte ab. »Es geht schnell«, sagte er, »ich entschuldige mich bei dir. Mein Zorn hat mich überwältigt.«
Erika Haberl war äußerst gespannt. Ihr überkorrekter Chef bot selten Anlass zu interessanten Klatschgeschichten.
»Wir reden ein andermal weiter«, sagte Thon. »Ich nehm deine Entschuldigung an.«
»Dann mach ich mich auf den Weg.«
»Vergiss die Sitzung um zwei nicht!«
»Da bin ich sicher noch nicht zurück«, sagte Süden und verschwand.
Sprachlos sah Thon seine
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