German Angst
dorthin. »Und dafür wird man dich schlachten, Lucy Arano, die werden dich bluten lassen wie eine Sau im Schlachthof, die Zeit der Gnade ist vorbei, du hast das genau gewusst und es war dir egal, dein Vater sitzt voller Angst in einem Hotelzimmer und erstickt an seiner Traurigkeit, deine Stiefmutter ist entführt worden und du springst einer Reporterin ins Gesicht! Die dürfen das doch überhaupt nicht senden! Stell dich doch nicht selber wie eine Hirnamputierte dar, was soll das? Du bist nicht alleine, Lucy, du lebst nicht allein auf diesem Planeten!« Obwohl es gar nicht möglich schien, wuchs der Furor seiner Stimme weiter an, und noch immer wandte er sich nicht direkt an Lucy, sondern wütete gegen die Steine und den Schmutz. »Du hast Verantwortung und das weißt du genau! Du bist kein Baby mehr, du bist nicht einmal mehr ein Kind, du bist vierzehn und du denkst, du wirst deinen Schmerz los, wenn du anderen Schmerz zufügst. Aber das klappt nicht. Sieh das ein, sieh das ein! Du willst dich bestrafen, indem du andere bestrafst. Die können nichts dafür, Lucy! Und du kannst nichts dafür! Du bist nicht schuld am Tod deiner Mutter, ich weiß nicht, wer schuld ist, ich weiß es nicht, ich war bei den Ermittlungen nicht dabei. Die Wohnung hat gebrannt, vielleicht war es Brandstiftung, vielleicht war es Mord, alles, was meine Kollegen herausgefunden haben, war, dass eine Zigarette die Ursache war. Eine Zigarette! Eine von der Sorte, die deine Mutter geraucht hat. Vielleicht ist sie eingeschlafen und die Zigarette fiel ihr aus der Hand. Ich weiß nicht!« Er schrie ohne Pause, jedes Wort zerschellte an der Mauer und fiel in winzigen glühenden Splittern zu Boden. »Die Ärzte haben getan, was sie konnten, es waren gute Ärzte, einen von ihnen kenn ich. Ich hab heute mit ihm telefoniert, ich hab mir von ihm erzählen lassen, dass du bei ihr warst, von Anfang an, du hast neben ihrem Bett geschlafen, du hast ihre Hand gehalten, als sie im Koma lag, du hast ihr Gesicht gestreichelt, du wolltest, dass sie die Augen aufschlägt, das versteh ich, das ist etwas von dem wenigen, das ich wirklich vollkommen verstehe. Dass man will, dass der Tod wieder weggeht. Dass alles wird, wie es einmal war, friedvoll und schön, dass man wieder umarmen darf und dass man umarmt wird, dass es keinen Schmerz gibt, nur Freude. Nur Freude. Aber es gibt sie nicht mehr.«
Plötzlich drehte er sich um, hielt einige Sekunden lang inne, holte Luft, hob die Hand und hielt sie flach vor sich wie ein Tablett, auf dem er filigrane Gläser balancierte. Und seine Stimme wurde leiser, immer leiser und schwächer.
»Du kannst nur dabeistehen und zusehen, es bleibt dir nichts übrig, du kannst nicht eingreifen, das ist nicht vorgesehen. Du betest und musst erkennen, beten ist bloß sinnlos reden, also hörst du auf zu beten. Du fängst an zu fluchen, du verwünschst den Tag, an dem alles begann, an dem das Feuer ausbrach, und du verwünschst den Film, den du mit deinem Vater im Kino gesehen hast, als deine Mutter allein zu Hause war und die Flammen sie überraschten. Du verwünschst deinen Vater, weil er nicht gut genug aufgepasst hat auf deine Mutter, und dann – dann verwünschst du dich, weil du nicht gut genug aufgepasst hast auf deine Mutter. Und dann verfluchst du den Tag, an dem du geboren wurdest, denn wärst du nie geboren worden, dann würde deine Mutter noch leben, auch wenn sie dann gar nicht deine Mutter wäre, aber das spielt keine Rolle. Das spielt keine Rolle in deinem Hass, das ist alles gleich jetzt, du hast nichts als deine Wut, deine Ohnmacht und deinen einsamen, monumentalen Hass, unter dem du die Welt und alle Menschen begräbst. Du möchtest, dass sie spüren, was mit dir ist, du möchtest sie mitnehmen in deinen Keller, in dem es keine Tür gibt, nur Dunkelheit und Kälte und immer wieder das Gesicht deiner Mutter, das aus dem Schwarzen auftaucht und wieder erlischt. Du bist allein, du bist allein im Universum, und wenn du nach draußen gehst, auf die Straße, in die Schule, in den Supermarkt, dann siehst du nur Zombies, sie sind alle nur Zombies, sie wissen gar nicht, was richtig leben bedeutet. Richtig leben bedeutet nämlich Schmerzen haben und die kalte Hand eines Menschen halten, der nie mehr sprechen wird, nie mehr singen, nie mehr winken. Richtig leben heißt für dich Abschied nehmen, jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde. Jede Sekunde fallen, fallen, als kippe die Welt, so…« Er drehte seine flache Hand langsam zur
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