German Angst
sie sich Gummihandschuhe über und machte sich an die Arbeit. An Rossi verschwendete sie vorerst keinen Gedanken mehr.
Nachdem sie Ilona Leblanc nicht zu Hause angetroffen hatten, waren Sonja Feyerabend und Tabor Süden zum Felts Hotel Wagner gefahren und nun auf dem Weg zurück ins Dezernat. Wie immer saß er auf dem Rücksitz in der Ecke, als wäre der Wagen voll besetzt, und wippte mit dem Oberkörper hin und her. Ihre Interviews im Hotel waren frustrierend gewesen und sie hatten beide keine Lust darüber zu reden. Sämtliche Angestellten wiederholten ununterbrochen dieselben Aussagen: Wir können uns überhaupt nicht erklären, was mit der Chefin passiert ist. Nein, die Chefin hat so was noch nie gemacht. Unsere Chefin haut doch nicht einfach ab und lässt uns im Stich! Für die Chefin leg ich die Hand ins Feuer. Und ihr Vater, der ihr Stiefvater war, August Felt, weigerte sich sogar, die Polizisten zu empfangen. Durch die Tür des Zimmers, in dem er sich eingeschlossen hatte, teilte er den beiden Kommissaren mit, er habe alles Wesentliche bereits mit dem Leiter der Vermisstenstelle besprochen, mehr gebe es nicht zu sagen, zudem fühle er sich schwach, und wenn die Polizisten keine Neuigkeiten hätten, sollten sie ihn bitte in Ruhe lassen. Damit war das einseitige Gespräch beendet. Süden hatte ihm noch durch die Tür zugerufen, das Motiv von Katharinas Verschwinden überzeuge ihn nicht im Geringsten und er warte auf eine Erklärung von Seiten der Familie. Doch der alte Felt antwortete nicht und sie hatten keine Möglichkeit ihn zum Sprechen zu zwingen. Vor dem Hotel wurden sie von Reportern erwartet, deren Fragen sie wahrheitsgemäß nicht beantworten konnten. Und der einzige Mensch, der offenbar mehr wusste als die anderen, war nicht aufzutreiben. An der Rezeption hatte man keine Ahnung, wo Ilona Leblanc steckte, laut Dienstplan hätte sie längst zurück sein müssen.
»Kehr um!«, sagte Süden unvermittelt. Sonja schaute in den Rückspiegel und fuhr weiter die Dachauer Straße in Richtung Hauptbahnhof.
»Wir schicken die Kollegen weg und übernehmen selber die Überwachung«, sagte er und richtete sich auf.
»Und wieso?«
»Ich will wissen, warum sie verschwunden ist.« Tatsächlich war das der Grund gewesen, weshalb er vor mehr als acht Jahren in die Vermisstenstelle wechselte, obwohl er im Kommissariat 111, in der Mordkommission, die Chance gehabt hätte, zum Leiter der Abteilung aufzusteigen. Karriere zu machen interessierte ihn nicht, ihm ging es um etwas anderes, worüber er mit niemandem reden konnte, außer mit seinem Freund Martin Heuer. Ihm hatte er viel von den Dingen erzählt, die ihn Umtrieben, von den Wänden, die ihn zu erdrücken schienen und zu denen er in seiner Verzweiflung manchmal redete, damit sie ihn in Ruhe ließen. Vielleicht verstand Martin oft nicht, was er meinte, aber es genügte Süden, wenn sein Freund ihm zuhörte und keine Angst vor dem Minenfeld hatte, das ihn umgab, wenn die Erinnerungen explodierten. Am Anfang war es nur ein Impuls gewesen, das Kommissariat zu wechseln, die vertraute Umgebung zu verlassen, eine Aufgabe zu übernehmen, die aus noch mehr Papier, Telefonaten und Computerrecherchen bestand, als er es von der Mordkommission her gewohnt war. Zunächst war es nur der vage Wunsch gewesen, nicht länger das Schicksal von Toten zu erforschen, sondern das von Lebenden. Von Menschen, die in ihrer Umgebung Ratlosigkeit, Angst, Wut und Schmerz zurückgelassen und sich abgesetzt hatten, die ausgebrochen waren aus der Routine und den Ritualen der Gewohnheit. Nach und nach erst begriff Tabor Süden, dass sein Entschluss möglicherweise etwas mit seiner eigenen Biografie zu tun hatte, ein ziemlich gewagter Gedanke, wie er fand. Doch je länger er den neuen Job ausübte, desto vertrauter, ja plausibler und sinnvoller erschien ihm diese Wendung in seinem Berufsleben. Würde er auf diese Weise, mit all seiner Erfahrung auf diesem Gebiet, am Ende nicht vielleicht in der Lage sein, seinen Vater ausfindig zu machen? Den Mann, der sich nach dem Tod seiner Frau in einen lebenden Schatten verwandelt hatte und nicht einmal mehr seinen eigenen Sohn zu erkennen schien? Der, als Tabor sechzehn Jahre alt war, eines Sonntagmorgens in der Küche anfing, einen langen Monolog zu halten, von dem Tabor zunächst nicht das Geringste verstand. Erst am Schluss wurde ihm bewusst, was sein Vater ihm eigentlich mitteilen wollte. Am Nachmittag kamen Tabors Onkel Willi und seine Tante Lisbeth,
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