German Angst
unterschrieben mehrere Blätter, die Branko Süden ihnen vorlegte, und dann unterhielten sich die drei lange im Wohnzimmer, während er auf dem Boden seines Zimmers saß, unentwegt zur Decke hinaufschaute und sich einbildete, sie senke sich auf ihn herab, Zentimeter für Zentimeter. Irgendwann betrat sein Onkel Willi das Zimmer, setzte sich neben ihn und betrachtete ihn. Tabor hatte den Kopf immer noch in den Nacken gelegt und schon einen steifen Hals. Sein Onkel sagte etwas, dann rief er nach seiner Frau und Lisbeth brachte ein Tablett mit kleinen Gläsern voller Eierlikör. Tabor hasste dieses pappige Getränk. Willi fragte ihn, ob er ein Bier möchte, und Tabor nickte. Endlich senkte er den Kopf, rieb sich den Nacken, stand auf und ging hinüber ins Wohnzimmer, wo es nach Zigaretten roch. Sein Vater war nicht mehr da, auf dem Tisch lag ein Brief, »Lieber Tabor« stand oben drüber. Er steckte den Brief ein. Nachdem er das Bier, das Willi ihm brachte, getrunken hatte und ein weiteres im Fasan, in dem sich die Jugendlichen des Dorfes trafen, ging er zum Taginger See hinunter und las den Brief. Und bis heute erinnerte er sich an einen Satz, der, so schien es ihm, wie eine unverrückbare unheimliche Losung sein Leben bestimmte: »Gott ist die Finsternis und die Liebe das Licht, das wir ihm geben, damit er uns sehen kann.« Damals, mit sechzehn, hatte ihn die Vorstellung erschreckt, dass sein Vater nicht an Gott glaubte und ihn bloß für einen schwarzen Fleck hielt, für so etwas wie eine Nacht, die niemals endet. Ein paar Jahre später, eines Morgens, als er neben Eva aufwachte und sie ihn anlächelte, musste er wieder an diesen Satz denken und diesmal erschütterte er ihn. Plötzlich begriff er, was der Tod seiner Mutter bei seinem Vater ausgelöst hatte: das Ende Seiner Anwesenheit in einem gelobten Universum. Für seinen Vater existierte Gott offenbar ausschließlich in der Gegenwart des Glücks, erlischt es, verschwindet auch Er. Anders als die meisten Menschen betete Branko Süden nicht, wenn er litt und vielleicht Angst vor dem Tod hatte, er betete, weil die Freude und ein elementares Staunen über die Schönheit seiner kleinen Existenz ihn überwältigten. Und als seine Frau starb und er ihr nicht helfen konnte, sah er keinen Sinn mehr darin, seine bisherige Welt, die nun entleert und entstellt war, weiter zu bewohnen, und ging fort. Verließ sein Haus, seinen Sohn, das Dorf, das Land.
Nach Amerika wolle er, schrieb er in dem Brief an seinen Sohn, dorthin, wo sie alle drei einmal gemeinsam waren, zu Besuch bei einem Sioux-Schamanen, der die Krankheit von Tabors Mutter behandelte. Ob Branko Süden je in diesem Reservat angekommen war, wusste Tabor nicht, denn sein Vater hatte nie wieder etwas von sich hören lassen. Später, als er schon fast vierzig war, fragte sich Tabor, warum sein Vater nicht genügend Liebe für seinen Sohn gehabt hatte, um zu bleiben und sie beide sichtbar zu machen für Gott. Doch dann bereute er die Frage, er fand sie dumm und anmaßend. Von den Qualen und Träumen seines Vaters hatte er keine Ahnung und er machte ihm auch keine Vorwürfe. Das hatte er auch damals trotz seiner Trauer und Fassungslosigkeit nicht getan. Aus einem Grund, für den es keine Erklärung gab, hatte er die Entscheidung seines Vaters rasch akzeptiert und heute kam ihm diese Haltung selbstverständlich und völlig normal vor. Seine Klassenkameraden jedenfalls hatten sich über ihn gewundert, sein Lehrer hielt ihn für gleichgültig und auch sein Onkel und seine Tante wussten nicht so genau, wie sie mit seiner Gelassenheit umgehen sollten. Er war ein erwachsenes Kind und je älter er wurde, desto öfter fragte er sich, ob er je ein kindliches Kind gewesen war, ein Kind ohne Zeit und das Bewusstsein von Abschied. Manchmal zweifelte er daran.
»Wir sind hier verkehrt«, sagte Sonja Feyerabend. »Die Frau kommt nicht nach Hause.«
Sie beobachtete die Eingangstür in der Volkartstraße vom Auto aus, das sie vor einer Bank geparkt hatte. Neben dem Haus, in dem Ilona Leblanc wohnte, war eine Getränkehandlung, aus der ein junger Mann gerade eine Kiste Mineralwasser und einen Träger Orangensaft schleppte. Auf dem Gehsteig stellte er die Sachen ab, schnaufte, blickte über die Straße, als suche er etwas, und zündete sich eine Zigarette an.
»Wenn die halbe Million nicht wieder auftaucht«, sagte Sonja, »dann ist das Projekt in Leipzig gefährdet. Dann können sie das Hotel nicht bauen.«
»Wer profitiert davon?«
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