German Angst
Stichtag ist der 3. Oktober.«
Alle sahen ihn an.
»Ja?«, sagte Arano.
»Sollte Ihre Tochter verurteilt werden«, sagte Ronfeld, »wäre es denkbar, dass ihre Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert wird. Sie müsste dann ausreisen.«
»Was?« Beinah hätte Natalia vor Schreck gelacht.
»Was meinen Sie damit?«, fragte Arano und strich über Lucys Kopf. »Wohin denn ausreisen? Alleine? Sie würden sie einfach wegschicken?«
»Das ist absurd«, sagte Fischer. »Was sind das für Drohungen? Wir weisen keine Kinder aus.«
»Straffällig gewordene Ausländer müssen das Land verlassen«, sagte Ronfeld. Und bevor Arano etwas sagen konnte, fuhr der Staatsanwalt fort: »Ich skizziere hier den schlimmsten Fall, der hoffentlich nicht eintreten wird. Ich möchte nur, dass Sie begreifen, wie ernst die Lage ist. Ihre Tochter ist jetzt haftfähig, verstehen Sie mich richtig, es ist eine Untersuchungshaft, sie darf fernsehen, sie darf sich innerhalb des Hauses frei bewegen. Sie wird von Psychologen betreut, sie bekommt zu essen, und ihr Anwalt wird garantiert Haftbeschwerde einlegen. Aber ich gehe nicht davon aus, dass er Erfolg haben wird.«
Er warf Fischer einen Blick zu und wandte sich dann an Arano und Lucy.
»Du weißt, was jetzt auf dich zukommt?«, sagte er zu dem Mädchen.
»Ja, Sie wollen mich kaputtmachen. Aber das schaffen Sie nicht. Das schafft niemand. Das schaff nur ich selber.« Niemand, nicht einmal Karl Funkel, hatte diese Antwort von einer Vierzehnjährigen erwartet. Und auch nicht, was danach passierte: Lucy, die zum ersten Mal, seit sie hier war, einen fast munteren, wachen Eindruck machte, stand auf, ging um den Tisch herum und stellte sich vor den Staatsanwalt. Unwillkürlich wich er zurück und blieb erst kurz vor der Türschwelle stehen.
Lucy hob ihren rechten Fuß, der in einer dicken roten Wollsocke steckte. »Ich hätte gern meine Schuhe und meine Jacke wieder.«
Auf einem Bein stand sie vor ihm und wartete auf seine Reaktion.
Ronfeld sah Funkel an und dann Sonja Feyerabend.
»Das ist unmöglich, die Sachen werden noch untersucht«, sagte er.
»Das ist blöd«, sagte Lucy, »weil ohne meine Schuhe und die Jacke geh ich nirgends hin.«
»Du gehst sowieso nicht mit«, sagte Natalia mit dünner Stimme. Wieso, fragte sie sich, unternahm Sebastian nichts, den hatte sie doch engagiert! Wieso weist du diesen widerlichen Staatsanwalt nicht in die Schranken? Tu doch endlich was! Weil sie keinen Ton herausbrachte, berührte sie Fischer am Arm und deutete auf Lucy.
»Mach dir keine Sorgen!«, sagte er.
»A-a-aber, aber…«, begann sie und verstummte wieder. Die Bemerkung des Anwalts machte sie ebenso fassungslos wie vorhin Lucys Antwort.
»Ich hol die Sachen«, sagte Sonja Feyerabend und verließ das Büro.
»Wir werden sie nicht kriegen«, sagte Ronfeld zu Funkel.
»Ich denk schon«, sagte der Kriminaloberrat. Er hatte Recht. Nach fünfzehn Minuten – Arano hatte inzwischen seine Tochter in den Arm genommen und sie hatte sich ungelenk an ihn gelehnt, während Natalia mit zitternder Hand ein Glas Mineralwasser trank – kehrte Sonja mit den Schuhen und der Bomberjacke zurück.
»Und wo sind die Messer und die Pistole?«, fragte Lucy böse.
»Die behalten wir noch, die gehen nicht verloren«, sagte Sonja.
Ohne weitere Erklärungen fuhren sie anschließend in drei Autos zum Jugendgefängnis unterhalb des Nockherbergs. Arano saß neben Natalia auf dem Rücksitz eines Streifenwagens. Vor ihnen fuhren Lucy, Sonja und Fischer. Ronfeld nahm Funkel in seinem Wagen mit.
Es war halb zwei Uhr morgens. Als sie ausstiegen, hörte Arano in der Nähe einen Vogel singen. Und ihm fiel auf, dass die Luft nicht kühl, sondern angenehm mild war. Die Jugendhaftanstalt lag neben dem Frauengefängnis, zwei gelbe Gemäuer, deren kleine vergitterte Fenster alle dunkel waren. Die Autotüren schlugen, dann war es wieder still. Bis auf den Vogel, der zwitscherte wie trunken vor Freude. Vielleicht, dachte Arano, hat er den ganzen Abend in Biergärten aus Gläsern genascht und trillert jetzt aus isargrünen Träumen in die Nacht.
Oder, dachte er, es war Obinna, der Menschenfleisch fressende Geier aus seinem Heimatdorf Ogoja, der sich ein Tarnkleid übergestreift und seine Stimme verstellt hatte, damit ihn niemand erkannte, wenn er seinen Hunger stillte. Erschrocken drehte er sich zu seiner Tochter um. Trotz der Finsternis konnte er ihren Blick sehen, und der war stolz. Er ging zu ihr und wollte gerade den Arm um sie
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