German Angst
gar beleidigt geklungen, er wollte fair sein, er wollte das Mädchen ernst nehmen und nicht den Eindruck vermitteln, er handele über ihren Kopf hinweg.
»Kennen Sie einen guten?«, fragte sie. Unter der flachen Hand rollte sie eines der Gläser auf dem Tisch hin und her. Das schien ihr Spaß zu machen und sie gab ein leises Summen von sich. Fischer musste an seinen Kollegen Ronfeld denken, der den Tischtennisball in der gleichen Weise über die Platte zu rollen pflegte.
»Wir haben nicht viel Zeit, Lucy«, sagte er. Dass er auch müde und verspannt war, sagte er nicht. »Gleich beginnt deine Vernehmung, und es wäre sehr gut, wenn wir uns einigen, was du aussagst, Lucy.«
Inzwischen hatte er begriffen, dass ihn nur nett sein nicht weiterbringen würde. Was ihm vielleicht half, war Autorität.
»Hör mal, wir können das auch lassen. Ich bin freiwillig hier und ich kann was für dich tun, wenn du willst. Du hast zwei Typen zusammengeschlagen, dafür kannst du ins Gefängnis kommen…«
Er hatte den Eindruck, sie würde zum ersten Mal ein wenig über den Ernst der Lage nachdenken.
»Und zwar nicht erst nach der Gerichtsverhandlung, sondern schon heute Nacht. Du kommst in Untersuchungshaft, wenn du Pech hast, und nach allem, was du in der Vergangenheit angestellt hast, bleibst du dort auch eine Weile. Du bist jetzt strafmündig, Lucy, und für das verantwortlich, was du tust.«
So wie sie ihn ansah, mit gerunzelter Stirn, die Arme vor dem Bauch verschränkt, die breiten Lippen nach vorn geschoben, als sauge sie jedes seiner Worte intensiv ein, fasste er Mut, noch einen Zahn zuzulegen.
»Du hast nur eine Chance, dem zu entgehen: Du musst ehrlich sein, du musst mir alles sagen, was passiert ist und dann überlegen wir gemeinsam, was du der Polizei sagst. Ich unterliege der Schweigepflicht, was du mir anvertraust, kriegt niemand sonst zu hören. Du kannst dich auf mich verlassen, Lucy. Aber ich kann nur was für dich tun, wenn du mich nicht austrickst. Sonst hat alle Strategie keinen Sinn. Wer hat die Schlägerei im Kunstpark angefangen, welche Rolle spielte dein Freund, mit dem du unterwegs warst, wie war der genaue Ablauf? Sags mir, Lucy, und wir finden einen Ausweg.«
»Echt?«, sagte sie.
»Echt«, sagte er.
Dann schubste sie das Glas über den Tisch. Klirrend schlug es gegen die Wasserflasche und drehte sich im Kreis.
»Schweigen kann ich selber«, sagte Lucy. Und dann schwieg sie. Starrte schweigend in Fischers fassungsloses Gesicht, sah ihm zu, wie er aufstand, sein Sakko erst zu-, dann wieder aufknöpfte, nervös mit dem Füller spielte und ratlos durchs Zimmer ging. Er hatte es immer geahnt: Eines Tages würde sich seine mangelnde Erfahrung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen rächen. Jetzt war es also so weit und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er sich verhalten sollte.
Als die Tür aufging und ein Mann mit einer Augenklappe, eine Frau mit kurzen hellblonden Haaren und der junge Polizist von vorhin hereinkamen, schwieg Lucy immer noch. Und als der Anwalt und der junge Polizist, der sie mit Handschellen gefesselt und ihr die Jacke und die Schuhe abgenommen hatte, aus dem Raum gegangen waren, beantwortete sie die eine oder andere Frage. Sie hatte plötzlich das Gefühl, dass zu sprechen angenehmer war als bloß stumm rumzusitzen. Karl Funkel und Sonja Feyerabend waren ihr dankbar dafür.
Da zu diesem Zeitpunkt keine Sekretärin mehr im Dezernat war, die das übliche schriftliche Protokoll hätte anfertigen können, machten sich Funkel und die Hauptkommissarin gelegentlich Notizen, während das Aufnahmegerät lief. Schon zuvor hatte der Kriminaloberrat die Staatsanwaltschaft informiert. Nach dem Gespräch mit Lucy wollte er entscheiden, ob er den Staatsanwalt bitten würde, einen Haftbefehl zu beantragen.
Karl Funkel war dreiundfünfzig Jahre alt und seit mehr als dreißig Jahren bei der Polizei. Als ehemaliger Leiter der Vermisstenstelle hatte er viele Erfahrungen mit Jugendlichen gesammelt und ihre Motive waren ihm oft weniger fremd als ihren Eltern oder den Kollegen im Dezernat. Was Jugendliche dazu brachte, von zu Hause wegzulaufen, auf der Straße zu leben, krumme Dinger zu drehen und permanent Erwachsene zu provozieren, das interessierte und beschäftigte ihn und er hatte bis heute nicht aufgehört sich zu fragen, weshalb. Er hatte keine Kinder, er war nie verheiratet gewesen und der Täter, der sein linkes Auge zerstört hatte, so dass Funkel seither eine Augenklappe tragen musste,
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