German Angst
legen, als sie seine Hand ergriff.
»Mama wär jetzt traurig wegen mir«, sagte sie leise. Ihre Hand war kalt und er umfasste sie mit beiden Händen.
»Vielleicht wärst du nicht hier, wenn sie noch leben würde«, sagte Arano.
»Vielleicht.«
»Du musst nicht lang hier bleiben, hab keine Angst, Lucy!«
»Nein«, flüsterte sie, denn die Angst fraß ihre Stimme wie ein gieriges Tier.
Aufruf: Die Partei sucht Männer und Frauen ab 18 Jahren, die fähig sind, schwierige Aufgaben zu übernehmen und sich einzusetzen für das Wohl in unserem Lande. Eine besondere Ausbildung ist nicht erforderlich, Arbeitslose sind herzlich willkommen. Wer sich zur Verfügung stellt, dient dem Recht und der Freiheit unseres Volkes. Anmeldungen bitte an die Adresse der »Republikanischen Wochen-Zeitung«.
5 11. August
U m acht Uhr abends klingelte in Tabor Südens Wohnung in der Deisenhofener Straße 111 das Telefon. Es dauerte fast eine Minute, bis er das leise Geräusch im Flur wahrnahm. In sich versunken saß er im Wohnzimmer auf dem Boden, nackt, die Beine über Kreuz, unterwegs in einer zeitlosen Gegend. Mit beiden Händen umklammerte er sein blaues Amulett mit dem Adler und redete mit einem Toten. Redete, ohne die Lippen zu bewegen, ohne dass ein Ton zu hören war, redete nur hörbar für den anderen, seinen Freund Martin Heuer, der Polizist gewesen war wie er und eines Tages die Arbeit so wenig ertrug wie sich selbst. Er legte sich in einen Müllcontainer und jagte sich eine Kugel in den Kopf und Tabor Süden hatte es nicht verhindert. Seit ihrer Jugend waren sie Freunde gewesen, sie wählten denselben Beruf, sie lösten Fälle gemeinsam, sie liebten beide, ohne Neid aufeinander, ihre Kollegin Sonja. Doch als Martin entschied sich umzubringen, waren weder Sonja noch Süden nah genug bei ihm, um die Signale zu erkennen. Sooft er konnte, besuchte Süden Martins Grab auf dem Waldfriedhof, wo sein Freund neben der Kolonialwarenhändlerswitwe Kreszenzia Wohlgemuth lag, um mit ihm Kontakt aufzunehmen. Oder er nahm von seinem Zimmer aus Kontakt mit ihm auf, stimuliert vom Rauch einer Pfeife, die er mit Tabak und speziellen Pilzen füllte. Dann unterhielten sie sich lange und lachten viel. Und manchmal kehrte Tabor Süden schweißgebadet und jämmerlich erschöpft in die Gegenwart zurück und konnte eine Stunde lang nicht sprechen.
Wie das Rasseln eines müden Tieres drang das Geräusch an sein Ohr. Das Gesicht seines Freundes verschwand, er verlor die Orientierung und glaubte in die Tiefe zu stürzen, immer tiefer und schneller, und dann riss er die Augen auf, rang nach Luft und streckte die Arme seitlich vom Körper, die Hände erhoben, als wolle er sich an unsichtbaren Wänden abstützen. Das Telefon klingelte weiter.
Langsam erhob er sich und roch den süßlichen Duft der Pfeife, der schwer im Zimmer hing. Schwankend öffnete er die Tür und trat in den Flur hinaus. Bevor er den Hörer abnahm, lehnte er die Stirn an die Wand und genoss die kühle Berührung, ein paar Mal rieb er mit dem Kopf hin und her, dann beendete er das gedämpfte Klingeln: »Ja?«
»Herr Süden, hier ist Christoph Arano. Entschuldigen Sie, dass ich Sie zu Hause störe, aber… aber Frau Horn ist verschwunden, Natalia Horn, sie ist nicht mehr da, wir müssen sie suchen.«
»Seit wann ist sie weg?« Den Apparat in der Hand ging Süden ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
»Seit… seit… Ich weiß es nicht, sie ist weg. Niemand weiß, wo sie ist. Sie hat niemand was gesagt, ihre Koffer sind alle da, ihre Sachen auch. Ich kann mir das nicht erklären…«
»Sind Sie jetzt in der Wohnung von Frau Horn?«
»Ja. Bitte kommen Sie und sehen Sie, dass ich Recht habe.«
»Was ist Ihre Vermutung, Herr Arano?«
»Meine… Ich glaube, ihr ist was zugestoßen, weil…«
»Ja?«
»Sie würde nie einfach weggehen ohne mir etwas zu sagen.«
»Warum nicht?«
»Bitte?«
Eilig zog sich Süden an und wartete auf Aranos weitere Erklärungen.
»Ich versteh Sie nicht, ich… ich hab Angst um meine Verlobte…«
»Sie sind verlobt?«
»Ja, wir… wir haben es noch niemand gesagt, wegen der ganzen Sache mit Lucy, und wir haben ja auch noch keinen Termin…«
»Ich gratuliere Ihnen.«
»Ja…«
Süden versprach zu kommen und bestellte anschließend ein Taxi.
Ein eigenes Auto hatte er nicht. Im Dienst benutzte er, wenn er nicht wie fast immer bei Sonja mitfuhr, den anthrazitfarbenen Vectra des Dezernats. Tabor Süden ging am liebsten zu Fuß, sich zu beeilen
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