German Angst
war ein siebzehnjähriger Dealer gewesen, der von seinem elften Lebensjahr an kriminelle Geschäfte betrieb. Funkel hegte nicht den zweifelhaften Wunsch, als Polizist zur Besserung der Gesellschaft beizutragen oder so behutsam wie möglich junge Menschen, die auf der Kippe standen, soziales Verhalten zu lehren und ihnen den Weg zurück in eine funktionierende Gemeinschaft zu ermöglichen, vielmehr hatte er das einfache Bedürfnis, hinter die versteinerten Masken zu schauen, die verborgenen Wunden aufzuspüren und zu erahnen, was die Gründe für extremes Verhalten waren. Eine schlimme Kindheit, Armut oder Arbeitslosigkeit waren selten die Ursachen allein, meist gab es, wie Funkel in tausend endlosen Gesprächen erfahren hatte, noch etwas anderes hinter all dem Druck, der sich plötzlich entlud in einer Tat, die niemand verstand. Kaum ein Täter, der dieses Andere nicht irgendwann zum Ausdruck brachte, manchmal für ihn selbst völlig unerwartet in einem kurzen Moment von Erkenntnis und Einsicht. Oft aber versagte Funkel beim Zuhören und die Fragen, die er stellte, prallten am undurchdringlichen Panzer seines Gegenübers ab oder die Antworten waren nur Fährten in die Irre. Und je länger er jetzt mit Lucy Arano redete, desto mehr verlor er die Hoffnung, von ihr wenigstens eine einzige Ziffer für das Zahlenschloss des Tresors zu erfahren, in dem sie die Geheimnisse ihres tobenden Herzens aufbewahrte. Er hörte, was sie sagte, aber ihre Worte kamen ihm vor wie Murmeln, mit denen sie selbstvergessen spielte.
»Das war genau so, wie ichs gesagt hab«, erklärte Lucy.
»Der Typ hat mich angemacht und ich hab ihm gesagt, er soll das lassen, aber er hat weitergemacht. Das ist doch doof.«
Funkel füllte ein Glas bis zum Rand mit Orangensaft und hielt es Lucy hin. Sie schüttelte den Kopf. Er füllte ein zweites Glas zur Hälfte und schob es ihr hin. Sie nahm es aus Gefälligkeit und trank einen Schluck. Funkel lächelte flüchtig.
»Du kanntest den Jungen also nicht«, sagte Sonja. Lucy gefiel die Frisur der Kommissarin. Spitzengelb, dachte sie, und der Zacken bringts, der ist die Note! Sonja hatte sich einen braunen Zickzackmittelscheitel in ihren blonden Kurzhaarschnitt färben lassen, von dem sie sich vom ersten Tag an nicht sicher war, ob er lässig aussah und ob sie nicht zu alt für so einen Schnickschnack war. Ihr Kollege Martin, der nicht mehr lebte, hatte sie deswegen Punkmaus genannt, und nur noch Tabor Süden durfte sie heute so nennen.
»Sag ich doch«, erwiderte Lucy.
»Das Handy ist nagelneu, warum wolltest du es verkaufen?«, fragte Funkel und kratzte sich an der Oberkante seiner Augenklappe, was er etwa hundertfünfzigmal am Tag tat.
»Ich wollts doch nicht verkaufen, Mann!«, sagte Lucy laut.
»Ich wollts tauschen. Gegen das Messer von dem Typ. Wozu braucht der so ein Ding? Das ist was für mich. Ich bin Expertin für Messer.«
»Das haben wir gemerkt«, sagte Funkel. »Deine Jacke ist das reinste Arsenal.«
»He! Ich lass mich nicht beklauen, und ihr habt kein Recht, mir die Sachen wegzunehmen, ist das klar? Ich hab dem Typen eine verpasst, okay, dafür steh ich ein, aber die Sachen gehören mir, ich weiß genau, was ich alles hab, wehe wenn was fehlt!«
»Wir nehmen dir nichts weg«, sagte Sonja und das war eine glatte Lüge. Weder die sechs verschiedenen Messer noch die Gaspistole und die dünnen Metallplatten würde Lucy zurückerhalten, zumindest vorerst nicht, solange nicht geklärt war, ob der Staatsanwalt Anklage erheben würde.
»Machst du das öfter, Sachen tauschen?« Über den Rand des Glases hinweg schaute Funkel sie an.
»Kann sein«, sagte sie.
»Warum wollte der Junge nicht mit dir tauschen?«, fragte Sonja und Funkel war erleichtert, dass seine Kollegin so schnell reagierte und die Aufmerksamkeit des Mädchens von sich selbst weg und wieder auf den Jungen lenkte. Der brachte Lucy zum Sprechen.
»Weil er ein kompletter Arsch ist.« Wütend verschränkte sie die Arme vor der Brust und Sonja wunderte sich, warum sie die Arme immer wieder krampfhaft hochhielt.
»Ist dir kalt?«, fragte die Kommissarin.
»Wieso denn?«, blaffte Lucy. Dann bemerkte sie Sonjas Blick.
»Wirklich nicht. Mir ist nicht kalt, okay?«
»Und weil er nicht tauschen wollte, habt ihr angefangen euch zu prügeln.« Funkel stand auf und ging zu seinem Schreibtisch.
»Er hat mich angemacht, wie oft soll ich das noch sagen? Er hat versucht, mir das Handy zu klauen, Mann! Und da hab ich mich
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