German Angst
auf Süden hinunter und kratzte sich am Arm. »Am Tag vor der Hochzeit ist sie verschwunden, und kein Mensch wusste, wo sie steckte. Sie war weg, sie war futsch. Das Hochzeitskleid hing an der Schranktür, die ersten Geschenke lagen schon da, alles war bereit. Und sie war weg.« Melanie schüttelte den Kopf, als wäre das alles erst am Vortag passiert. »Wir wollten sie abholen, meine Großmutter und ich, ich war zwölf, wir hatten das Auto mit Blumen geschmückt, überall waren Rosenblüten verteilt, es roch wie in einem Garten. Ja… Wir kamen in die Wohnung und da war niemand. Hier, ich weiß noch, ich bin in jedes Zimmer gegangen, hier unten, dann oben im ersten Stock, da ist das Schlafzimmer, und da hing das Kleid – von meiner Mutter keine Spur. Meine Großmutter hat gedacht, sie ist vielleicht noch etwas besorgen gegangen, was ihr im letzten Moment eingefallen war, das wär ihr schon zuzutrauen. Wer kommt auf die Idee, dass sie verschwunden ist? Dann kam Klaus, ihr Zukünftiger, ich mochte ihn nicht besonders, aber egal, ich sollt ihn ja nicht heiraten, und er hat dann auf dem Standesamt angerufen und gesagt, es wird später. Schon krass, oder?«
Es quietschte, als sie im Aschenbecher heftig die Zigarette ausdrückte. »Wir standen alle hier rum, rausgeputzt, und draußen warteten die Nachbarn, und auf dem Standesamt gabs Ärger wegen der nachfolgenden Termine, dort gehts ja Schlag auf Schlag, wenn da eine Partei zu langsam macht, stauen sich alle anderen nach hinten. Der Standesbeamte hat zweimal angerufen, dann hat er gesagt, er muss den Termin canceln, wir sollen uns bei ihm melden, wenn wir einen neuen Versuch machen würden. Klaus hat ihm nicht gesagt, dass die Braut spurlos verschwunden ist, das hat er sich nicht getraut, das kann ich verstehen.«
»Wieso hat sie das getan?« Ohne dass Melanie es bemerkt hätte, hatte Süden einen Notizblock zur Hand genommen und schrieb mit.
»Als sie wieder da war, hat sie nur gesagt, sie konnte es einfach nicht. Sie würd ihn nicht lieben, den Klaus, er wär nicht der Richtige für ihre Liebe, sie hätt sich getäuscht.«
»Sie hat gesagt, er ist nicht der Richtige für ihre Liebe?«
»Ja.«
»Wie lang war sie verschwunden?«
»Schätzen Sie mal!«
»Keine Lust.«
»Einen Monat.«
Erstaunt hielt Süden beim Schreiben inne. »Dann haben Sie sie polizeilich suchen lassen.«
»Ja klar, noch am selben Tag. Der Polizist hat sich einen gegrinst, der hat sicher gedacht, die Alte hat Schiss gekriegt und ist zu ihrem Liebhaber. Sie haben die Anzeige aufgenommen, aber ich glaub nicht, dass sie ernsthaft nach ihr gesucht haben. Versteh ich, wenn man erwachsen ist, kann man abhauen…«
»Wo war sie die ganze Zeit?«
»Das hat sie nicht gesagt. Aber… ich hatte so eine Idee und bin…«
Sie zögerte. Ging die Polizei die Vergangenheit ihrer Mutter tatsächlich etwas an? Vor allem dieser Teil der Vergangenheit, an den sie jetzt dachte und an den sie schon damals als Kind gedacht hatte, als sie plötzlich, wie einer Eingebung folgend, in den Münchner Norden gefahren war, heimlich und schlotternd vor Furcht? War es klug, jetzt daran zu rühren? Halfen die alten Geschichten wirklich, die gegenwärtige Lage zu klären? War es im Sinne ihrer Mutter, darüber mit einem Fremden zu sprechen? War dieser Polizist überhaupt fähig zu erahnen, was ihre Mutter vor dreizehn Jahren durchlitten hatte, um das zu tun, was sie getan hatte? Sie, Melanie, hatte es ja selber lange Zeit nicht verstanden und manchmal zweifelte sie immer noch daran, dass ihre Mutter damals keine andere Wahl hatte.
»Ich muss nicht mitschreiben, wenn Sie das nicht möchten«, sagte Süden. Er legte Block und Kugelschreiber auf den Tisch, beugte sich vor und faltete die Hände vor dem Gesicht. »Ich hör nur zu.«
»Okay«, sagte Melanie. »Okay… Ich weiß nicht, ob es wichtig ist… Ja, ist es. Ist es. Aber ich weiß nicht, warum.« Sie lächelte gequält und kratzte sich am Arm.
»Meine Mutter arbeitete in einem… in einem Nachtclub, in einer Art Nachtclub, im… in der Domagkstraße…«
»In einem Bordell«, sagte Süden.
Sie sah ihn an, er zuckte mit den Achseln, was sie ein wenig aus dem Konzept brachte.
»Ja, aber… Sie musste es tun, weil… sie war allein, allein mit mir und… mein Vater hat sich aus dem Staub gemacht… Rising Sun heißt das Lokal, so hieß es damals, ich weiß nicht, ob es noch existiert. Es ist vorbei, für meine Mutter, es war nur eine Phase…«
»Ja«, sagte
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