German Angst
Süden.
Jetzt, in diesem Moment, war sie froh, dass er sie so eindringlich und ernst ansah, so wie vorher, als sie direkt erschrocken war über diesen fordernden Blick. Diesmal gab er ihr Mut, feuerte sie geradezu an. Sie schüttelte den Kopf.
»Was ist?«, fragte Süden.
»Nichts. Also sie hat da gearbeitet, na und? Niemand weiß davon. Meine Großmutter darf das nie erfahren und…« Rasch drehte sie den Kopf und blickte zur Tür in der vagen Furcht, jemand habe von dort zugehört. »Und Chris, bitte, Sie dürfen kein Wort davon zu ihm sagen, versprechen Sie das?«
»Ja.«
Seine Art verunsicherte sie, seit er hereingekommen war. Entweder, dachte sie, er gibt extrem knappe Antworten oder die Worte brechen eruptiv aus ihm raus, wie vorhin, als er von seinen Erfahrungen auf der Vermisstenstelle erzählt hat. Kurioser Bulle.
»Woher kommt eigentlich Ihr Name?«, fragte sie. Es war ihr einfach so in den Sinn gekommen.
»Das weiß ich nicht«, sagte er und schien nicht im Mindesten überrascht zu sein über die Abschweifung.
»Meine Eltern waren Flüchtlinge aus dem Sudetenland, ich bin in Taging geboren.«
»Am Taginger See?«, sagte Melanie.
»Ja.«
Sie stutzte. Etwas in seinen Augen veränderte sich und sie konnte nicht erkennen, was es war. Die Farbe? Nein, es waren die Pupillen, sie schienen dunkler zu werden und gleichzeitig größer, jedenfalls kamen sie ihr fremd vor, und… ferner, weiter entfernt.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte sie.
»Doch«, sagte er. »Ich muss mich bewegen, ich bin heute schon zu viel gesessen, zwischen Wänden.« Er stand auf und atmete mit offenem Mund tief ein und aus.
»Zwischen Wänden?«
Darauf ging er nicht ein. »Und als Ihre Mutter am Tag ihrer Hochzeit verschwand, haben Sie gedacht, sie hat sich im Rising Sun versteckt.« Er drehte sich ein paar Mal im Kreis, was Melanie merkwürdig fand.
»Was machen Sie da?«
Er winkte ab und wartete darauf, dass sie weitersprach.
»Also… ja, ich bin mit dem Bus hingefahren, ganz allein, niemand hat etwas wissen dürfen. Ich hab geklingelt und eine Frau hat geöffnet. Ich hab sie gefragt und sie sagte, dass meine Mutter nicht da sei. Aber ich hab ihr nicht geglaubt, ich hab ihr sofort nicht geglaubt.«
»Warum nicht?«
»Weil sie mich so komisch angeschaut hat. Und sie hat auch gar nicht viel gefragt, so als würde sie alles schon wissen, als hätte ihr meine Mutter schon alles erzählt. Ich bin wieder nach Hause gefahren. Drei Tage später hat meine Mutter angerufen und gesagt, dass es ihr Leid tut und dass ich mir keine Sorgen machen soll, sie wäre bald wieder da und meine Oma würde auf mich aufpassen. Die beiden haben auch miteinander gesprochen und hinterher war Oma wütend und hat meine Mutter beschimpft. Die können sich nicht leiden. Aber meine Großmutter kann eigentlich niemand leiden, die schiebt einen Hass auf jeden, das ist normal bei der.«
»Und einen Monat später war Ihre Mutter wieder da«, sagte Süden.
»Sie kam mit dem Taxi. Und sie hat mich in den Arm genommen und…« Sie stockte.
»Woran denken Sie?«, fragte Süden schnell.
»Ist nicht wichtig.«
»Sagen Sies mir, Melanie!«
»Ich… ich hab grad gedacht, dass meine Mutter… dass ich das immer so wundervoll fand, wie sie mich umarmt hat. Das war jedes Mal eine große Geborgenheit für mich, ich hab immer gedacht, in der Umarmung meiner Mutter kann ich nicht verloren gehen, da bin ich sicher, da kann mir nichts passieren. Ich weiß nicht… Sie konnte das eben, sie schlang nicht nur die Arme um einen, sondern sie gab einem das Gefühl, dass… dass du echt… dass du echt gemeint bist…«
Sie drehte sich weg. Sie schniefte. Sie ging zum Tisch und zündete sich wieder eine Zigarette an. Aus der Küche drangen die Stimmen von Arano und Sonja herüber, leise, als würden die beiden flüstern.
»Das ist gar nicht wichtig«, sagte Melanie, nachdem sie sich geschnäuzt und einen tiefen Zug aus der Zigarette genommen hatte.
»Das ist das Wichtigste überhaupt«, sagte Süden. Wieder schaute sie ihm in die Augen, schaute diesen kräftigen Mann mit den schulterlangen Haaren und den Bartstoppeln an wie einen Eindringling, der ihr zu nah gekommen war. Eine Minute verging, in der sie bloß dastand und die Zigarette in ihrer Hand vergaß, während die Asche lautlos auf den Teppich fiel und draußen ein Hund bellte und in der Küche ein Glas klirrte.
»Was hat sie gesagt, als sie zurückkam?«, fragte Süden und machte einen Schritt zur Seite.
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