German Angst
Schlagzeilen und Fernsehbilder gehörten für sie nicht zu Menschen, die nicht wussten, was sie taten. Sie glaubte nicht, dass Distanz und Abneigung, Ekel und Hass, Verachtung und Spott aus Versehen entstanden und die Menschen so plötzlich veränderten wie der Föhn das Wetter. Etwas war gewachsen in ihnen und sie hatten es zugelassen, einige vielleicht widerwillig und aus Schwäche, andere gleichgültig oder aus Trotz. Aber Ahnungslosigkeit war das Letzte, was Nuriye den Leuten, denen sie begegnete, unterstellen würde. In ihren Augen und nach allem, was sie in der Schule begriffen hatte, gab es in diesem Land, was den Umgang mit Fremden betraf, die Dummheit nur als Ausrede. Und ein Fremder blieb ein Fremder, wenn er fremdes Blut hatte, ganz gleich, ob er in Neuperlach oder in Ankara zur Welt gekommen war. Jedenfalls war das ihre Überzeugung, und auch wenn sie die Sprache noch immer nicht perfekt beherrschte, so wusste sie doch den Klang von Stimmen zu deuten und das Schweigen, das gleichgültig wie Schnee auf sie fiel, wenn sie mit einem Kopftuch in die Kneipe kam und nach einer Stunde keine Lust mehr hatte ihre kulturelle Identität zu erklären. Dennoch wollte sie nirgendwo anders leben als hier und vielleicht hatte Sülo Recht und sie steigerte sich bloß in eine Wahnvorstellung hinein, die mit der großen Wirklichkeit nichts zu tun hatte. Und sie nahm sich vor, in Zukunft weniger misstrauisch zu sein und nicht mehr jedes abfällige Wort ihrer Kunden im Kaufhaus auf sich zu beziehen. Sie liebte ihre Arbeit, ihre Kolleginnen waren immer freundlich zu ihr und sie war glücklich, dass ihr Chef sie so akzeptierte, wie sie war, samt ihres Kopftuchs und ihrer eher hausbackenen Kleidung. Außerdem hatte er versprochen, ihren Vertrag, der vorläufig auf ein Jahr lief, auf zwei Jahre zu verlängern, falls sie weiterhin so erfolgreich im Verkauf sei.
Morgen hatte sie einen Termin bei Jens Zischler und bei dieser Gelegenheit wollte sie ihn fragen, ob er inzwischen eine Erklärung hatte für den mysteriösen Überfall in seinem Büro. Immer noch schien niemand im Haus etwas Konkretes zu wissen. Sie freute sich, Zischler zu sehen. Er hatte, fand sie, den verdrossenen Gesichtsausdruck eines Jungen, der dauernd Dinge ausheckt, die er sich dann doch nicht zu tun traut.
»Ich kenne den Mann nicht näher«, sagte die Frau mit der roten Schürze, die Elsbeth Lang hieß, »ich seh ihn nur manchmal, wenn er kommt und Frau Horn ihn begrüßt. Wir wohnen ja seit ungefähr acht Jahren nebeneinander, ich mag die Frau Horn sehr, ich hab mir auch schon überlegt, mal zu ihr zu gehen und mich maniküren zu lassen.«
Sie nickte ihrem Mann zu, der hinter ihr im Flur aufgetaucht war. Er trug eine Strickjacke und hatte seine Brille auf die Stirn hochgeschoben.
»Werner Lang«, stellte er sich vor.
»Ihnen ist also nichts weiter aufgefallen? Fremde Besucher? Irgendetwas, das ihnen ungewöhnlich vorkam?«, fragte Sonja Feyerabend.
Frau Lang sah ihren Mann an, dann schüttelten beide den Kopf.
»Was denn genau?«, fragte er.
»Wir sammeln Informationen«, sagte Tabor Süden.
»Frau Horn ist gestern zum letzten Mal gesehen worden.«
»Und da kommt gleich die Polizei?« Elsbeth Lang sah die Kommissare mit einem spöttischen Lächeln an.
»Vielleicht ist ihr etwas zugestoßen«, sagte Sonja.
»Was sagt denn ihr Freund, der… wie heißt der gleich, der… der Mann?« Lang legte die Hand auf die Schulter seiner Frau.
»Arano«, sagte Elsbeth.
»Ja, Arano. Über seine Tochter steht dauernd was in der Zeitung…«
»Waren Sie beide den ganzen Nachmittag zu Hause?«, fragte Sonja. Die kühle Freundlichkeit des Ehepaares erstaunte sie, sie gaben bereitwillig Auskunft, sie machten den Eindruck, als wollten sie helfen, dabei schien jeder Satz, den sie sagten, einen anderen zu beinhalten, den sie nicht sagten und nur schwer zurückhalten konnten.
»Mein Mann war im Ministerium«, sagte Elsbeth, »er arbeitet dort. Ich war ein paar Besorgungen machen… Ich verstehe nicht, wieso die Polizei kommt, nur weil…«
»Bitte rufen Sie uns an, falls Sie sich an was erinnern!«, sagte Süden. Ihm war klar, dass die beiden etwas von Sonja und ihm erfahren wollten und selber nichts zur Aufklärung beitragen konnten.
Sie klingelten an der nächsten Tür. Wie die meisten Häuser in dieser Gegend sah auch dieses sauber und gepflegt aus, mit einem kleinen, von einer Hecke umsäumten Garten. Auf dem Balkon im ersten Stock erschien ein Mann Ende
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