Germania: Roman (German Edition)
Sekundenschnelle war Oppenheimer mit seinem Gefangenen im Hinterhof und zerrte ihn die erstbeste Kellertreppe hinunter.
»Na kiek mal eener an, der olle Oppenheimer«, sagte Ede in vertraulichem Ton, als er seinen Kragen wieder in Ordnung gebracht und es sich auf den Treppenstufen gemütlich gemacht hatte. »Und ick dachte schon, die hätten Ihnen längst aufjeknüpft.«
Oppenheimer blieb stehen, um den Hof im Auge zu behalten. »Ich habe es bislang verhindern können«, meinte er knapp.
Ede zog ein Taschentuch hervor, um seine glänzende Stirn abzureiben. Früher hatte Oppenheimer ihn manchmal als Spitzel eingesetzt. Sie waren immer gut miteinander ausgekommen, obwohl es offiziell nicht bekannt werden durfte. Ede hatte ihn auch nie gelinkt. Wenn es sich um Delikte handelte, die seiner speziellen Art der Ganovenehre widersprachen, besaß er keine Skrupel, seine Kollegen zu verpfeifen. »Also, wenn Se wieder Informationen wollen, muss ick jestehen, det ick sozusagen im Ruhestand bin.«
»Na, Fahrradfahren verlernt man doch auch nicht, oder?«, stellte Oppenheimer fest. Ertappt grinste Ede. »Ich bin nicht mehr im Polizeidienst«, fügte Oppenheimer hinzu. »Ich bin gewissermaßen privat hier.«
Interessiert blickte Ede ihn an. »Ja, weiter?«
»Ich brauche ein Zimmer zum Wechseln.«
Der Schwere Ede verstand sofort. »Is jemand hinter Ihnen her?«
»Am besten, ich sage es gleich: Die SS beschattet mich. Ich muss sie gelegentlich von den Hacken haben.«
»Puh.« Ede runzelte die Stirn. »Dit wird nich einfach werden, Chef. Mit der SS is nich jut Kirschen essen. Ham Se wenigstens ’n paar Jroschen übrich?«
Oppenheimer holte sein Zigarettenetui hervor und zeigte die Zigaretten, die er von Hilde bekommen hatte. »Vier pro Woche. Mehr geht nicht.«
Ede schaute gedankenverloren zum Himmel, der aus diesem Blickwinkel nur ein blaues Quadrat über ihren Köpfen war.
»Hm, dit is eijentlich fair. Aber mit der SS wird’s schwer sein, da wat zu finden. Außer …« Ede überlegte kurz. »Wir ham da een Zimmer drüben in Moabit. Nutzen wir manchmal als Lager, sonst steht dit Ding leer.«
»Ich werde kurzfristig kommen. Keine Möglichkeit, mich vorher anzumelden.«
»Schon kapiert. Sowie et jeklärt is, kriegen Se den Schlüssel und die Adresse. Wird schon klappen, aber ick will erst mal fragen. Wo kann ick Se denn finden, Herr Kommissar?«
Oppenheimer riss eine leere Seite aus seinem Notizblock und schrieb seine Adresse auf. »Du hast was bei mir gut«, sagte er dann zum Abschied.
»Ick werde drauf zurückkommen«, meinte Ede.
Oppenheimer hegte keinen Zweifel daran.
Überall in der Lagerhalle des Spirituosen-Großvertriebs Höcker & Söhne GmbH türmten sich versiegelte Kisten. In ihnen befand sich, penibel in Holzwolle eingepackt, eine äußerst begehrte Ware. Oppenheimer fragte sich, wie viele Liter an Hochprozentigem hier wohl gelagert waren. Sicher wäre es möglich gewesen, mit diesen Mengen eine ganze Kompanie für mehrere Tage lahmzulegen. Doch keine trinkwütigen Soldaten befanden sich in dieser Halle; der Einzige, der durch die beschilderten Regalreihen stapfte, war ein Lagerverwalter mit dem Familiennamen Häffgen.
Er war zwangsweise Abstinenzler, seit ihm sein Arzt den Genuss von Alkoholika verboten hatte. Zweifellos hatte dieser Umstand dem Inhaber Gerd Höcker die Entscheidung erleichtert, Häffgen den verantwortungsvollen Posten des Lagerverwalters zu übertragen. Ohne Häffgens Genehmigung durfte nicht ein einziger Tropfen die Halle verlassen. Danach zu schließen, wie misstrauisch er Vogler und Oppenheimer bei ihrem Rundgang durch die Firma musterte, hütete er den ihm anvertrauten Schatz, als sei es der Nibelungenhort.
Vogler hatte an diesem Morgen mit der Neuigkeit aufgewartet, dass Inge Friedrichsen hier angestellt war. Das Unternehmen war überschaubar. Höcker beschäftigte insgesamt acht Personen, neben dem Lagerverwalter Häffgen gab es noch vier Fahrer, zwei Aushilfen, die Kisten zu stapeln hatten, und eine Sekretärin. Laut Höcker hatte er Inge Friedrichsen im Juli letzten Jahres als zusätzliche Sekretärin eingestellt. Fräulein Friedrichsen war stets pünktlich, erledigte ihre Aufgaben gewissenhaft und war darüber hinaus ein Mitglied der NSDAP, was ihren vertrauenswürdigen Charakter in seinen Augen noch unterstrich. Davor hatte sie in Klosterheide gearbeitet, einem winzigen Dorf, das zirka sechzig Kilometer nördlich von Berlin lag. Oppenheimer fragte sich, welche Verwendung
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