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Germinal

Germinal

Titel: Germinal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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er geizte, weil es zu seinem Leben so notwendig war wie das Brot. In seinen Ohren summte die Stille; er hörte nur den Lauf einer Rattenschar, das Krachen der alten Verzimmerungen, das leise Geräusch einer Spinne, die an ihrem Netze wob. Mit offenen Augen in die warme Leere starrend, kam er wieder auf seinen fixen Gedanken zurück: was die Kameraden da oben trieben. Ein Abfall seinerseits würde ihm die größte Feigheit geschienen haben. Wenn er sich so verborgen hielt, geschah es nur, um frei zu bleiben, um zu raten und zu handeln. Sein langes Brüten hatte seinem Ehrgeiz eine bestimmte Richtung gegeben: bis Besseres komme, hätte er Pluchart sein, die Arbeit im Stiche lassen, bloß für die Politik arbeiten mögen, aber allein in einem sauberen Zimmer, unter dem Vorwande, daß die Kopfarbeiten das ganze Leben in Anspruch nehmen und viel Ruhe erfordern.
    Als zu Beginn der zweiten Woche der Knabe ihm erzählte, daß die Gendarmen meinten, er sei nach Belgien geflohen, wagte Etienne bei Einbruch der Nacht aus seinem Loch hervorzukommen. Er wollte sich von der Lage der Dinge überzeugen; er wollte sehen, ob man noch länger im Widerstande beharren solle. Er hielt das Spiel für verloren; schon vor dem Streik zweifelte er an dem Erfolge; er hatte einfach der Macht der Tatsachen nachgegeben; und jetzt, nachdem er am Aufruhr sich berauscht hatte, kam er auf seinen ursprünglichen Zweifel zurück und gab die Hoffnung auf, die Gesellschaft zur Nachgiebigkeit zu zwingen. Aber er gestand es sich noch nicht; ihn quälte eine Angst, wenn er an den Jammer der Niederlage dachte, an die schwere Verantwortlichkeit für all das heraufbeschworene Leid, die auf ihm lasten werde. Das Ende des Streiks -- bedeutete es nicht das Ende seiner Rolle, die Vernichtung seines Ehrgeizes, des Zurücksinken seiner Existenz zu dem tierischen Dasein in der Grube und zu den Widerlichkeiten des Arbeiterdorfes? Aufrichtig, ohne niedrige, heuchlerische Berechnungen bemühte er sich, seinen Glauben wiederzufinden, sich selbst zu überreden, daß der Widerstand noch weiter möglich sei, daß das Kapital angesichts des heldenmütigen Selbstmordes der Arbeit sich selbst zerstören werde.
    In der Tat widerhallte die ganze Gegend vom Verderben. Wenn er des Nachts in der finstern Landschaft herumirrte wie ein Wolf außerhalb seines Waldes, glaubte er von einem Ende der Ebene bis zum andern das Krachen der Einstürze zu hören. Längs der Straßen fand er nur geschlossene, tote Fabriken, deren Gebäude unter dem bleichen Himmel in Trümmer sanken. Besonders die Zuckerfabriken hatten zu leiden; die Zuckerfabrik Hoton und die Zuckerfabrik Fauvelle hatten zuerst die Zahl ihrer Arbeiter vermindert und schließlich den Betrieb ganz eingestellt. In der Kunstmühle Dutilleul hatte der letzte Mühlgang am zweiten Samstag des Monats still gestanden; die Seilerei Bleuze, wo Grubenseile erzeugt wurden, war durch den Streik vollends zugrunde gerichtet. In Marchiennes und Umgebung ward die Lage täglich schwieriger: in der Glasfabrik Gabelois waren die Kesselfeuer ausgelöscht; in den Bauwerkstätten von Sonneville fanden weitgehende Arbeiterentlassungen statt, von den drei Hochöfen des Hüttenwerkes war nur einer angeblasen; die Koksöfen hingegen standen kalt. Der Streik der Bergleute von Montsou, hervorgegangen aus der industriellen Krise, die seit zwei Jahren immer schlimmer wurde, hatte diese Krise noch verschärft, den Zusammenbruch beschleunigt. Zu den Ursachen des Notstandes: dem Ausbleiben der Bestellungen aus Amerika und dem Festlegen der Kapitalien in einer Überproduktion, gesellte sich jetzt noch der unvorhergesehene Kohlenmangel in den wenigen Fabriken, die noch arbeiteten; diese Nahrung der Dampfmaschinen, welche die Schachte nicht mehr lieferten: sie bedeutete das letzte Todesröcheln. Erschreckt durch die allgemeine Not, hatte die Gesellschaft, nachdem sie die Förderung vermindert und ihre Bergleute ausgehungert, zu Ende des Monats Dezember den letzten Rest ihrer Vorräte schwinden sehen. Die Geißel fuhr durch das Land, ein Sturz zog den andern nach sich, die Industrien brachen tot zusammen in einer so schnellen Folge von Katastrophen, daß man die Rückschläge selbst in den Nachbarstädten verspürte, in Lille, Douai, Valenciennes, wo flüchtige Bankiers zahlreiche Familien zugrunde richteten.
    Zuweilen blieb Etienne bei einer Straßenkrümmung in der eiskalten Nacht stehen, um zu horchen, wie die Trümmer niederstürzten. Er sog mit kräftigen

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