Germinal
Zügen die Finsternis ein; eine Freude an dem Nichts erfaßte ihn, eine Hoffnung, daß der anbrechende Tag die Ausrottung der Welt beleuchten werde, in der kein Vermögen mehr übrig geblieben, weil das alles gleichmachende Richtscheit wie eine Sense über den Erdboden dahingefahren war. Doch in diesem Gemetzel interessierten ihn hauptsächlich die gesellschaftlichen Gruben. Er ging weiter; schier geblendet von der Finsternis besichtigte er eine nach der anderen, glücklich, wenn er von einem neuen Schaden Kenntnis erhielt. Es ereigneten sich neue, immer ernstere Einstürze in dem Maße, wie die Verödung der Minengänge sich in die Länge zog. Oberhalb der Nordgalerie von Mirou senkte sich das Erdreich in einem solchen Umfange, daß die Straße nach Joiselle in einer Länge von hundert Metern verschwand, als habe ein Erdbeben sie verschlungen, und die Gesellschaft bezahlte, ohne zu feilschen, den Eigentümern ihren verschwundenen Bodenbesitz aus Angst wegen des Lärms, den diese Unfälle verursachen konnten. Crèvecoeur und Magdalene, von sehr losem Gestein, wurden immer mehr verschüttet; man sprach von zwei Aufsehern, die im Siegesschachte unter einem Einsturze begraben lagen; Feutry-Cantel war durch einen Wassereinbruch ersäuft; in der Grube Sankt-Thomas mußte eine Galerie in der Länge von einem Kilometer untermauert werden, weil die schlecht unterhaltenen Verzimmerungen auf allen Seiten brachen. So ergaben sich von Stunde zu Stunde riesige Kosten, immer größere Breschen in den Dividenden der Aktionäre, ein reißender Verfall der Gruben, der, wenn er noch länger andauerte, die in einem Jahrhundert in ihrem Werte verhundertfachten Anteile von Montsou schließlich verschlingen mußte.
Angesichts dieser wiederholten Schläge erwachte in Etienne wieder die Hoffnung; er glaubte schließlich, daß ein dritter Monat des Widerstandes das Ungeheuer totmachen werde, das müde, vollgefressene Tier, das wie ein Götzenbild in seinem unsichtbaren Heiligtum hockte. Er wußte, daß infolge der Unruhen zu Montsou eine lebhafte Aufregung sich der Pariser Blätter bemächtigt hatte; es entwickelte sich eine heftige Polemik zwischen den regierungsfreundlichen und gegnerischen Blättern, furchtbare Schilderungen, die man besonders gegen die Internationale ausbeutete, vor welcher das Kaiserreich allmählich Furcht bekam, nachdem es sie anfänglich ermutigt hatte. Da die Verwaltung sich nicht länger taub zu stellen wagte, hatten zwei Verwaltungsräte geruht, nach dem Schauplatze des Streiks zu reisen, um dort eine Untersuchung anzustellen; aber sie taten es mißmutig, ohne sich um die Abwicklung zu kümmern, dermaßen teilnahmslos, daß sie nach drei Tagen wieder abreisten mit der Erklärung, daß die Dinge ganz gut stünden. Indes versicherte man ihm andererseits, daß die Herren während ihrer Anwesenheit dauernde Sitzungen gehalten, eine fieberhafte Tätigkeit entwickelt und sich in Geschäfte versenkt hätten, von denen niemand in ihrer Umgebung ein Wörtchen verraten wollte. Er beschuldigte sie, daß sie ihre Vertrauensseligkeit nur heuchelten; er nannte ihre Abreise eine tolle Flucht und war nunmehr des Sieges sicher, weil diese furchtbaren Menschen alles im Stiche ließen.
Doch in der folgenden Nacht verzweifelte Etienne von neuem. Die Gesellschaft hatte zu starke Lenden, als daß man ihr sie so leicht hätte zerschlagen können; sie konnte Millionen verlieren und sie später von den Arbeitern wieder hereinbringen, indem sie ihnen den Lohn verkürzte. Als er diese Nacht bis nach Jean-Bart gegangen war, hatte er die Wahrheit erkannt, nachdem ein Aufseher ihm erzählt hatte, daß man davon spreche, Vandame solle an Montsou abgetreten werden. Im Hause Deneulins war -- so erzählte man -- eine mitleiderregende Not eingezogen, die Not der Reichen; der Vater war krank infolge seiner Ohnmacht und gealtert durch die Geldsorgen; die Töchter schlugen sich mit den Leuten herum, welche den Bedarf des Hauses lieferten, und suchten ihre Hemden aus den Krallen der Gläubiger zu retten. Man litt weniger in den ausgehungerten Arbeiterdörfern als in diesem Bürgerhause, wo man hinter verschlossenen Türen speiste, weil man bei Tische Wasser trank. In Jean-Bart war die Arbeit nicht wiederaufgenommen worden, in Gaston-Marie hatte die Maschine ersetzt werden müssen; überdies war trotz aller Eile, mit der letzteres geschehen, Wasser in den Schacht eingedrungen, dessen Auspumpen große Kosten verursachen mußte. Deneulin hatte endlich
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