Gern hab ich Sie bedient: Aufzeichnungen des Oberkellners im Hotel Vier Jahreszeiten Hamburg (German Edition)
sehen, wenn wir aus dem Fenster schauen? Die kalte Neonröhre von der alten Meier ihrer Küche.«
Zurück zu unseren Models. Die ganze Belegschaft wartet auf die vielen Schönheiten. Besonders die italienischen Kellner, überwiegend Freizeitcasanovas, sind schon ganz aufgeregt. Mit ihren schwarzen Locken und blauen Augen versuchen diese Südländer, alles was weiblich ist, in ihren Bann zu ziehen. Man hört Stimmen aus der Hotelhalle. Dunkel gefärbt, sonor. Die Stimmen werden lauter und voller. Sie nähern sich dem Grill.
Und wer tritt durch die Tür? Ein Dutzend wunderbar gutgewachsene junge Männer. Kein einziges Mädchen dabei. Die Gesichter meiner männlichen Mitarbeiter werden immer länger und länger. Die Enttäuschung steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Aber da müssen sie durch.
Ulrich Wildgruber und die Rostbratwurst
Als ich am Ende meiner Nachmittagspause durch die Wandelhalle des Hauptbahnhofs gehe, steigt mir der Duft von gebratener Rostbratwurst in die Nase. In der gegenüberliegenden Imbissbude wendet der orientalisch aussehende junge Hilfskoch sein schweinernes Grillgut Stück für Stück jeweils um eine Vierteldrehung, bis die Würste von allen Seiten schön rösch und appetitlich sind. Es ist etwa halb sechs. In einer halben Stunde werde ich meinen Abenddienst antreten, vorher noch ein rasches Abendessen in der Kantine. Senfeier mit Kartoffeln, so war es heute Mittag auf dem Speiseplan angeschrieben. Nicht gerade meine Lieblingsspeise. Eher meine Verachtungsspeise. Und nun der verführerische Bratwurstduft. Schnell entscheide ich mich um und beschließe, lieber eine dieser wohlriechenden Würste zu essen. Knackiges Brötchen und mittelscharfer Senf dazu. Genau das Richtige in diesem Augenblick. Oh, wie lange habe ich solch eine Wurst nicht gegessen! Es ist Feierabend und viele haben die gleiche Idee wie ich. Alle Stehtische von hungrigen Mäulern okkupiert. Aus dem Augenwinkel erspähe ich an einem der mit knallgelben Plastikdecken bezogenen Tischchen noch einen freien Platz. Flugs also Pappteller und Plastikbesteck geschnappt und nichts wie hin. Ein etwa fünfzigjähriger dicklicher Mann mit etwas aufgedunsenem rotem Gesicht und blauen Augen starrt neben mir konzentriert auf seinen Pappteller. »Guten Abend und guten Appetit«, sage ich.
Intensiv mit dem Verzehr seiner in Senf und Ketchup badenden Bratwürste beschäftigt, erwidert er meinen Gruß, ohne aufzublicken, mit einem wortlosen Nicken, wobei ihm das zottelig langgekrauste, flachshelle Haar aus dem aufgeschlagenen Mantelkragen rutscht. Plastikgabeln und Plastikmesser, welche in einem zylinderförmigen Behälter zur Entnahme bereitliegen, verschmäht er. Mit kräftiger Hand nimmt er die Wurst zwischen Daumen und Zeigefinger. Wie der ganze Mann sind auch die Finger von beachtlicher Dicke. Tomatenrot und senfgelb fließt es ihm zähflüssig von den Fingerkuppen hinunter zum Handballen, um zwischen Mantel- und Hemdärmel hinein weiterzurinnen. Ein für mich unangenehmer Anblick. Es irritiert mich, wie er, bar jeder Esskultur, schmatzend sein Grillgut hinunterschlingt. Meinen ganzen Mut zusammennehmend frage ich: »Warum nehmen Sie keins von dem bereitstehenden Plastikbesteck?« Da blickt er zum ersten Mal auf, sieht mich an und sagt: »Geben Sie eins aus?«
Nun erinnerte ich, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Und zwar bei einer Pressekonferenz im Hotel Vier Jahreszeiten. Damals hatte ich gedacht, der Kerl gehöre zur für Technik und Ablauf der Veranstaltung verantwortlichen Crew. Wer er wirklich war, hatte ich erst im Nachhinein erfahren. Und jetzt hatte ich mich zum zweiten Mal von den Umständen täuschen lassen. Tatsächlich handelte es sich nämlich um ein sehr bekanntes Gesicht. Ja, es bestand kein Zweifel: Bei dem scheinbar so kulturlosen Bratwurstvertilger neben mir handelte es sich um einen der größten Theaterschauspieler deutscher Sprache – Ulrich Wildgruber. Seinen Othello, seinen Theatermacher in Thomas Bernhards gleichnamigem Stück sowie seine Darstellung des Dr. Schön in Frank Wedekinds Lulu werde ich nie vergessen. Sternstunden auf der Bühne des Deutschen Schauspielhauses. Erneut sprach ich ihn an, und als er nun meinen Wiener Dialekt bemerkte, wurde sein Gesicht freundlicher und die Augen bekamen Glanz. Er erzählte mir, dass er in seiner Anfangszeit am Wiener Volkstheater gespielt hatte, was mir ganz neu war.
Nach dieser erkennenden Kontaktaufnahme wechselte der rabaukenhafte Mann unversehens
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