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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Tümpel. Und ich war allein auf diesem Weg, ganz allein. Papa war hinter einer Biegung verschwunden. Es war nichts mehr von ihm zu sehen. Ich rannte los, keuchend und weinend, mein Fuß verfing sich in irgendetwas,ich fiel hin und rappelte mich wieder auf, ich rannte weiter, das Gesicht im Wind voller Tränen und Rotz.
    Und dann war da die Biegung, und hinter der Biegung eine Kreuzung mit einem Wegweiser, der zeigte in vier leere Richtungen.
    Papa war verschwunden.
    Nur sein Koffer stand noch da.
    Ich wusste, dass ich ihn verloren hatte. Verloren für immer.
    Eine Ewigkeit lang stand ich dort allein. Eine kurze Ewigkeit. Wie lang braucht ein Mensch schon, um zu pinkeln? Papa kam wieder aus dem Gebüsch heraus, wischte mir das Gesicht ab und tröstete mich. «Mein armes Nachschrabsel» , sagte er.
    Als ich mich wieder beruhigt hatte, las er mir, um mich auf andere Gedanken zu bringen, die Ortsnamen auf dem Wegweiser vor. Nesselkappe stand da und war gar nicht mehr weit entfernt. Auf einem andern Arm: Sonnenburg. Was mir, verfroren wie ich war, als verlockendes Ziel erschien.
    «Da gehen wir aber nicht hin», sagte Papa. «Dort ist nur das Zuchthaus.»
    Später – ich habe es in Paris erfahren – wurde aus dem Zuchthaus ein KZ, und es half einem nichts, wenn man sagte: «Da gehen wir aber nicht hin.»
     
    Und dann diese fremde Wohnung.
    Eigentlich gar nicht so fremd. Die Wohnung eines Verwandten, wenn ich auch heute nicht mehr sagen könnte, an welchen Ast unseres Stammbaums er gehörte. Nach einem Orkan macht es keinen Sinn, abgebrochene Zweige zu zählen.
    Die Wohnung hatte nichts Außergewöhnliches, aber mir schien sie unheimlich. Wir waren Eindringlinge, Einbrecher geradezu. Papa stemmte eine Schreibtischschublade, zu der er den Schlüssel nicht fand, mit einem Brecheisen auf. Und der Besitzer all dieser Dinge war gerade erst verstorben. Wir hausten in den Zimmern eines Toten.
    Und da war dieser Geruch, diese ungelüftete Muffigkeit. Bei unsan der Klopstockstraße hatte sich auch einmal ein übler Geruch ausgebreitet, jeden Tag stärker, und am Ende war es eine Maus gewesen, im Heizungsrohr verwest. Als wir sie fanden, war sie ganz ausgetrocknet, und Papa las aus Meyers Konversations-Lexikon etwas über ägyptische Mumien vor.
    Ein gestorbener Mensch, so leuchtete mir das damals ein, ist noch viel toter als eine verweste Maus. Wenn ich nachts neben Papa in diesem fremden Ehebett lag, wenn ich in der Dunkelheit auf die fremden Geräusche lauschte oder auf den fremden Mangel an Geräuschen, dann fand ich vor Angst keinen Schlaf. Ich war mir sicher: Der Verstorbene konnte jederzeit wieder auftauchen und uns Eindringlingen etwas antun.
    Mein Leben lang hatte ich in jeder verlassenen Wohnung dasselbe Gefühl. Es machte keinen Unterschied, ob da jemand gestorben war oder geflohen, oder ob er deportiert worden war.
    Am Tag verhandelte Papa mit Leuten, die etwas von der Hinterlassenschaft kaufen wollten. Zuerst dachte ich, es müssten alles seine Freunde sein. Im Gespräch mit ihnen entberlinerte sich seine Sprache immer mehr und nahm die Dialektfärbung an, die er sich sonst nur im vertrauten Familienkreis erlaubte. Aber diese Männer gehörten nicht zur Familie. Aus irgendeinem Grund schien er Angst vor ihnen zu haben. Das war deutlich zu spüren, auch wenn er meine Frage danach weglachte.
    Wahrscheinlich verramschte er alles viel zu billig. Kaum einer der Interessenten verließ die Wohnung mit leeren Händen. Jeder schleppte zumindest einen Stuhl ab oder einen Waschkorb voller Geschirr. Ich erinnere mich an eine Standuhr, die beim Wegtragen plötzlich zu schlagen begann. Einmal, als vier Männer fluchend ein schweres Büffet die enge Treppe hinunterwuchteten, brach einer der geschnitzten Füße ab, und sie verlangten für den Schaden eine Preisminderung.
    Gleich am ersten Tag fand ich in dem staubigen Winkel, wo ein Nachtkästchen schon seit Jahrzehnten am immer gleichen Ort gestanden hatte, einen preußischen Silbergroschen aus dem Jahr 1850. Scheidemünze stand darauf, ein fremdes Wort, das mich sehr beeindruckte.Ich durfte den Groschen behalten und habe ihn noch als Erwachsener viele Jahre als Talisman im Geldbeutel herumgetragen. Bis er dann eines Tages, wie so vieles andere, einfach nicht mehr da war.
    Die Wohnung leerte sich immer mehr und schien dabei größer zu werden. Die Wände, so kam es mir vor, wuchsen in die Höhe. Auf der Tapete erschienen helle Flecken, wo früher einmal Bilder gehangen hatten. Es

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