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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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angegiftet. Jetzt saßen sie da, jeden Tag auf derselben Treppenstufe vor der Hamburger Kaserne, dort, wo manchmal die Sonne hinscheint, wenn sie scheint, und hauten sich die Merowinger und die Karolinger um die Ohren. So lang sie sich streiten konnten, waren sie immer noch Professoren, so lang sie mit hinterhältiger Höflichkeit zum andern sagen konnten: «Da haben Sie wohl etwas nicht bedacht, verehrter Kollege», so lang waren sie immer noch lebendig. Waren sie immer noch sie selber.
    Ich habe keine Karolinger und keine Merowinger. Ich hab den Jannings und den Albers und den Rühmann. Die Spira und die Marlene. Ich kann nachmachen, wie der Lorre ganz schnell redet, wenn er etwas gespritzt hat, und wie er dann plötzlich müde wird und anfängt,die Konsonanten zu verschleifen. Ich weiß, wo der Siskowitz seine Zigaretten versteckt, weil er ohne Nikotin nicht arbeiten kann und im Schneideraum wegen der Feuergefahr nicht geraucht werden darf. Ich weiß das alles, und so lang ich es weiß, weiß ich auch noch, wer ich bin.
    Großpapa hat mir einmal eine Geschichte erzählt, eine der Legenden, die er sich so gern ausdachte. Ich hatte etwas vom Paradies aufgeschnappt und wollte von ihm wissen, wie es dort aussieht. Eine Frage, die ich Papa nicht stellen durfte. Sie hatte mit dem lieben Gott zu tun, und den mochte er nicht. «Wunderschön ist es im Paradies», sagte Großpapa. «Da spielt immer Musik, und bequeme Sessel stehen da und Tische voller Kuchen und Limonade. Für die Erwachsenen gibt es Zigarren, die sind schon angezündet, wenn man sie aus dem Etui nimmt, und brennen so lang, wie man Lust auf sie hat. Man kann Spiele spielen, Fang den Hut oder Eile mit Weile , und weil es das Paradies ist, gewinnen alle. Wer im Leben alt war, ist wieder jung, und wer krank war, wieder gesund. Nur manchmal wird einer blass, so blass, dass man durch ihn hindurch sehen kann, dann steht er auf und geht hinaus und kommt nie mehr zurück.»
    «Was sind das für Leute, die hinausgehen?», habe ich gefragt.
    «Diejenigen, an die sich niemand mehr erinnert.»
    Ach, Großpapa.
    Ich habe so viele Leute gekannt, bei denen es umgekehrt war. Die nicht verschwunden sind, weil man sie vergessen hatte, sondern weil sie sich selber vergaßen. Weil sie ihre Erinnerungen irgendwo haben stehenlassen. Gepäckstücke, die man nicht mehr braucht. Blass sind sie geworden, das stimmt, blass und durchsichtig, und sind fortgegangen, ohne sich zu verabschieden. Waren weg, obwohl sie noch da waren. Standen noch in der Essensschlange, lagen noch auf ihrem Strohsack, und wenn man mit ihnen sprach, gaben sie Antwort.
    Aber sie waren nicht mehr da.
    Ich will nicht so zu Ende gehen. Ich bin nicht im Paradies, weiß Gott nicht, es gibt hier keine weichen Kissen und keine Tische vollerKuchen, aber ich mache es mir in meiner Vergangenheit bequem und erinnere mich an den eigenen Erlebnissen satt. Ich rauche meine Zigarre, die sich von selber anzündet, ich nehme noch einen Zug, noch einen und immer noch einen, und ich lege sie nicht aus der Hand, egal, was ich dafür tun muss.
    Egal, was ich dafür tun muss.
     
    Solang ich meine Erinnerungen habe, kann ich mich zusammensetzen. Kann herausfinden, wer ich bin. Ich will nichts davon loslassen. Nicht das kleinste Detail.
    Die allererste Szene, die der Jannings für den Blauen Engel gedreht hat. Wo er sich als Professor seinen Schüler nach Hause bestellt, um ihm wegen dieser Nackedei-Bilder die Hölle heiß zu machen.
    Will mich erinnern, wie der Jannings losdonnerte. Als ob er im Zirkus Schumann den Ödipus zu spielen hätte. Mindestens den Ödipus. Auch den Text hatte er sich umgeschrieben. Vom Stummfilm her war er es gewohnt, dass es auf die Worte nicht ankam.
    Ich will die Augen zumachen und seinen Monolog noch einmal hören.
    Wie dann plötzlich die Stimme vom Sternberg aus dem Lautsprecher kommt – es war ja Tonfilm, und der Regisseur saß mit seinem Kopfhörer über den Ohren in dieser schalldichten Kabine. Wie er sagt: «Wir sind hier nicht im Theater, Emil. Du brauchst nicht hinter jedem Ton her sein wie der Teufel hinter der armen Seele.»
    Daran will ich mich erinnern. Wie der Jannings beleidigt ist. Sich aufführt wie ein trotziges Kind. Er sei schließlich der beste Sprecher aller Berliner Bühnen, wenn der Sternberg wolle, werde er ihm gern die entsprechenden Kritiken zeigen, und wenn er jetzt seinen ersten deutschen Tonfilm drehe, dann sollten das die Zuschauer auch merken. Hat dabei die ganze Zeit

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