Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Igel.
Manchmal macht die Weltgeschichte Pause. Holt Luft für die nächste Gemeinheit. Wechselt am Projektor die Rollen. Ich bin dann immer blöd genug und meine, es sei das Happy End. Ich bin nun mal so gebaut. Egal, wie oft ich auf die Schnauze falle, ich glaube immer wieder, dass die Dinge besser werden. Dass man etwas ändern kann. Es ist idiotisch, aber ich möchte es nicht anders haben. Ich würde es sonst nicht aushalten.
Wir hatten uns eine Wohnung in Scheveningen genommen. An der Bosschestraat. Von dort konnte man zur Filmstad fahren, ohne sich durch den Verkehr im Stadtzentrum zu quälen. Ich war erst den zweiten oder dritten Tag dort, als mir auf der Promenade ein Mann entgegenkam, den ich überall, nur nicht hier, vermutet hätte: Rudolf Nelson! Den hatte es auch nach Holland verschlagen. In Amsterdam brachte er eine Revue nach der andern auf die Bühne, und in den heißen Monaten zog er den Sommerfrischlern hinterher und gastierte mit seiner Truppe im Kurhaus von Scheveningen. Natürlich saßen Olga und ich am Abend in der Vorstellung. Er holte mich sogar auf die Bühne. Ich musste – was sonst? – das Mackie-Messer-Lied singen. Die Zuschauer jubelten.
Wenn man hinterher darüber nachdenkt, war es eine perverse Situation. Die meisten von den Kurgästen, die Nelsons Pointen belachten und bei seinen Liedern im Takt mitklatschten, kamen ausDeutschland. Nicht als Flüchtlinge, sonst hätten sie sich wohl kaum Zimmer im Kurhaus leisten können. Wo man von den Kellnern schief angesehen wurde, wenn man keinen Champagner bestellte. Dieselben fetten Arschgesichter, die sich schon in Berlin immer die vordersten Tische hatten reservieren lassen. In der Inflation hatten sie Lebensmittel verschoben, jetzt machten sie mit den Nazis Geschäfte. Hängten ihr Fähnlein in den Wind, und es war ihnen scheißegal, was für ein Fähnlein das war. Solang es nur flatterte.
Für ihr Amüsement hatten sie die Judskis, die man aus Deutschland vertrieben hatte. Am Tag bauten sie mit ihren Kindern Sandburgen, und am Abend holten sie den Frack aus dem Koffer und ließen die Puppen tanzen. Ich kann mir vorstellen, was sie einander zugeflüstert haben – nein, solche Leute flüstern nicht, sie reden immer laut –, was sie einander zugebrüllt haben, als ich plötzlich auf der Bühne stand. «Guck mal, der Gerron! Scheint ihm gutzugehen, hier in Holland – sein Bauch ist noch dicker geworden.»
Das Nelson-Ensemble war nicht das einzige. Es gab mal einen Abend, da traten sie im Kurhaus auf, während in Den Haag, nur ein paar Straßenbahnstationen weiter, der Willy Rosen mit seinem Theater der Prominenten gastierte. Auch so eine deutsche Flüchtlingstruppe. Hinterher trafen wir uns alle bei mir in der Küche und tranken Loets Genever leer. Man kam sich vor wie in Berlin. Der Nelson, der Rosen, der Max Ehrlich und auch meine alten Kumpel, der Wallburg und der Siegi Arno. Und und und.
Ein paar Jahre später haben wir uns dann alle wieder getroffen. In Westerbork. Wo auch wieder deutsche Zuschauer applaudierten. Uniformierte Sommerfrischler, die statt mit Tennisschlägern mit Sturzkampfbombern nach Holland gekommen waren. Und ihre jüdischen Lustigmacher standen alle wieder auf der Bühne. Nur zwei fehlten: Der Siegi hat es nach Amerika geschafft, und der Nelson ist irgendwann spurlos verschwunden. Hoffentlich lebt er noch.
In Scheveningen ging es uns gut. Es war nicht Berlin – nicht einmal Berlin selber wird heute noch Berlin sein–, aber dafür gab es auch keine Nazis. Fast keine. Die paar Anhänger der Nationaal-Socialistische Beweging galten damals noch als ungefährliche Spinner. Das Kurhaus hängte die Hakenkreuzfahne nur raus, damit sich die deutschen Gäste wie zu Hause fühlen konnten. Alle Hoteliers sind Schweizer: so neutral, dass sie von jedem Geld nehmen.
Es war auszuhalten. Mehr als das. Verglichen mit dem, was hinterher kam, war es das Paradies.
Bis zu dem Tag, an dem Papa verschwand. Einfach nicht mehr da war.
Mama hatte wieder mal ihre Magenbeschwerden, und Olga begleitete sie zur Apotheke. Sie ließen sich Zeit dafür. Gingen auch noch Kaffee trinken. Die Tage waren lang, und man durfte die paar Dinge, die man zu tun hatte, nicht verschwenden. Als sie zurückkamen, lag auf dem Tisch dieses Kuvert. An meine Familie. Darin ein sauber gefaltetes Blatt, geschäftsmäßig korrekt mit Ort und Datum. In Papas säuberlicher Handschrift. Nur ein einziger Satz.
Ich halte es nicht mehr aus.
Ohne Unterschrift.
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