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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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mir in der Bücherei einen Atlas angesehen. So weit ist Witebsk gar nicht entfernt.
    Eppstein hat darauf bestanden, dass die paar Seiten nicht einfach in ein Kuvert gesteckt, sondern gebunden wurden, bevor sie auf Rahms Schreibtisch kamen. Mein Konzept ist ein hochoffizielles Dokument. Er hat eigens von Jo Spier ein Frontispiz zeichnen lassen. Der Wappenlöwe von Theresienstadt, an einer Filmkamera kurbelnd. Eppstein beherrscht die Formalien der Unterwürfigkeit.Wenn er Rahm den Hintern wischen müsste, er würde Büttenpapier besorgen.
    Noch etwas steht in dem Papier. Eppstein wollte es rausstreichen, aber ich habe darauf bestanden. Seit ich bereit war, für meine Prinzipien auf Transport zu gehen, bin ich mutiger geworden. Mut ist ein Muskel. Er wird stärker, wenn man ihn benutzt. «Um bei der Vorbereitung des Films keine Zeit zu verlieren», steht jetzt in dem Papier, «wäre es wichtig, dass der Regisseur die Möglichkeit bekommt, den Bereich der Festung zu verlassen, um außerhalb der Mauern attraktive Drehorte zu rekognoszieren.»
    Ich sehne mich nach freier Natur.
    Rahm hat noch nicht reagiert. Hat nicht einmal bestätigt, dass er das Konzept bekommen hat.
    Ich habe Frau Olitzki beauftragt, in der Bibliothek nach Informationen über die Geschichte von Theresienstadt zu suchen. Nicht weil ich es brauchen werde, sondern damit sie beschäftigt aussieht.
    Jetzt kann ich nur warten.
     
    Warten. Das habe ich geübt. Das beherrsche ich.
    Im Schützengraben, wenn wir wussten, es würde ein Sturmangriff befohlen werden, früher oder später, wenn das Trommelfeuer, das immer die Ouvertüre zum fröhlichen Morden bildete, schon das Gelände umpflügte, das wir erobern sollten, wo auch wieder in ihren Gräben Menschen warteten, wenn dann, während wir beteten oder soffen oder uns vor Angst in die Hosen schissen, die feindlichen Geschütze einsetzten, wenn sie die richtige Länge für ihre Geschosse suchten und die Einschläge schon näher kamen, immer näher, wenn uns der Geschützlärm gar nicht mehr interessierte, sondern alle nur noch zu Oberleutnant Backes hinlauschten, ob er schon angefangen hatte, sich zu räuspern – er war sich seiner Stimme nicht sicher und musste vor wichtigen Befehlen immer erst hüsteln –, wenn die Minuten immer langsamer vorbeigingen und noch langsamer und doch viel zu schnell – da habe ich warten gelernt.
    Im Lazarett, nach meiner Verwundung, als ich aufwachte und mich nicht bewegen konnte, weil sie mich mit Gazestreifen festgebunden hatten, damit ich mir nicht im Narkosedusel die frisch vernähte Wunde wieder aufriss, als niemand mir sagen wollte, was mit mir passiert war, was an mir noch ganz war oder auch nur an mir dran, als ich versuchte, dem immer noch gedämpften Schmerz nachzuspüren – wo tat es weh, und was hatte das zu bedeuten –, als ich die Reihe der Pritschen sah, die mir in jenem Moment unendlich vorkam und es ja auch war, weil immer neuer Nachschub an zerfetzten, zerschossenen, kaputten Soldaten angeliefert wurde, als ganz hinten, unendlich weit weg, schien mir, der Stabsarzt auftauchte, mit seinem Gefolge aus Krankenträgern und Rotkreuzschwestern, als er bei jedem Bett prüfend stehenblieb, ein Kunde im Warenhaus, der sich im Überangebot für nichts entscheiden kann, als es Stunden dauerte, Jahre, bis die Prozession in meine Nähe kam, als er dann endlich an meiner Pritsche stand, das vergoldete Koppelschloss direkt vor meinen Augen – es war frisch poliert, das sah ich als Zögling von Friedemann Knobeloch auf den ersten Blick, er hatte bei all den Verwundeten noch Zeit gefunden, das verdammte Koppelschloss zu polieren –, als er dann immer noch nichts sagte, sondern sich erst von einer Schwester das Krankenblatt reichen ließ und es in aller Seelenruhe studierte – da habe ich warten geübt.
    Als der Brecht der Neher diese Privatbehandlung angedeihen ließ, damals bei der Dreigroschenoper , als die beiden nebeneinander auf der Bühne saßen, nicht etwa in einem Büro, nein, auf der Bühne musste es sein; wenn der Brecht demonstrierte, wie egal es ihm war, ob ihm jemand zusah, dann wollte er dabei auch gesehen werden, als er jede Menge neuen Text für sie schrieb, ein paar Tage vor der Premiere, weil sie gedroht hatte, aus der Produktion auszusteigen, wenn ihre Rolle nicht größer würde, und weil er in sie verliebt war, in die schöne Witwe Klabunds, als wir andern Schauspieler im Zuschauerraum sitzen blieben, weil wir dachten, die Probe würde gleich

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